Welche Zukunft hat der Syrien-Prozess in Genf?
In den letzten zehn Jahren fanden in Genf mehrere Verhandlungsrunden zu Syrien statt. Nach dem Sturz von Präsident Baschar al-Assad könnte die Stadt Gastgeberin für weitere Gespräche zur Stabilisierung des Landes sein, meint ein Politologe.
Die Diplomatie im Nahen Osten läuft auf Hochtouren, seit die Blitzoffensive einer Rebellenkoalition unter Führung der islamistischen Gruppe Hayat Tahrir al-Sham (HTS) das Regime von Baschar al-Assad zu Fall brachte.
Am Samstag fanden in Jordanien Gespräche über die Zukunft Syriens statt. Daran nahmen mehrere der 22 Mitglieder der Organisation der Arabischen Liga teil, darunter die Nachbarstaaten Irak und Libanon, sowie Vertretende der Türkei, der USA und der Europäischen Union. Auch der UNO-Gesandte für Syrien, der Norweger Geir Pederson, war anwesend.
Die von HTS, einem ehemaligen syrischen Ableger von Al-Qaida, eingesetzte Übergangsregierung, die sich vom Terrorismus losgesagt haben will, war zu den Gesprächen nicht eingeladen.
Mehrere ausländische, vor allem westliche Regierungsstellen, die eine Zersplitterung des Landes und ein Wiederaufleben der terroristischen Bedrohung befürchten, haben jedoch inzwischen angekündigt, Kontakte zu den neuen Behörden in der syrischen Hauptstadt Damaskus aufgenommen zu haben.
In mehr als dreizehn Jahren Bürgerkrieg wurden über eine halbe Million Menschen getötet, das Land wurde verwüstet, rund sechs Millionen Syrerinnen und Syrer mussten fliehen.
Nun hat die neue Regierung versprochen, während der Übergangszeit bis zum 1. März «die Stabilität der Institutionen zu wahren» und «den Zerfall des Staats zu verhindern».
Neue Verhandlungen in Genf?
Souhail Belhadj Klaz, Gastprofessor am Genfer Hochschulinstitut, ist der Ansicht, dass die Gespräche zur Stabilisierung Syriens in Genf stattfinden sollten: «Es gibt keine fünfzig Alternativen», sagt er.
Seit 2012 haben in der Schweiz und besonders in Genf mehrere Verhandlungsrunden unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen stattgefunden.
An diesen Gesprächen, bei denen es unter anderem um die Ausarbeitung einer Verfassung ging, nahmen Abgeordnete aus der Regierung, der Opposition und der syrischen Zivilgesellschaft teil.
Die Gespräche scheiterten aufgrund von Meinungsverschiedenheiten zwischen den Parteien und dem Einfluss Russlands, das Baschar al-Assad stark unterstützt.
Das Büro des UNO-Sondergesandten für Syrien, das bisher die Rolle des Vermittlers übernommen hatte, gibt derzeit keine Auskunft über eine mögliche Wiederaufnahme der Verhandlungen in Genf.
Für Belhadj Klaz hat die Calvinstadt jedoch viele Vorteile, die sie zur besten Alternative für die nächsten Treffen machen.
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Ohne russischen Einfluss
Mit der starken Präsenz der Vereinten Nationen, speziell ihrer humanitären und menschenrechtlichen Organe, kann Genf für sich in Anspruch nehmen, über die für solche Verhandlungen notwendige Expertise zu verfügen. Zudem haben die meisten Staaten bereits eine diplomatische Vertretung vor Ort.
Die neutrale Schweiz könnte auch ihre Erfahrung in der Organisation diskreter Treffen zwischen Ländern und Gruppen mit unterschiedlichen Interessen einbringen.
Laut Belhadj Klaz könnten von Genf aus auch die notwendigen Mittel für den Wiederaufbau des Landes mobilisiert werden, da die Geberländer und -agenturen dort am ehesten zu finden seien.
Seit 2017 litten die Genfer Gespräche darunter, dass Russland mit Unterstützung des Iran und der Türkei einen konkurrierenden Verhandlungsprozess im kasachischen Astana ins Leben gerufen hatte. Dieser hatte die Gespräche in der Schweiz nach und nach hintertrieben.
Falls dieses Format noch aktiv sei, müsste es auf den Rest der internationalen Gemeinschaft ausgeweitet werden, da es nur von Moskau, Ankara und Teheran unterstützt werde, so Belhadj Klaz.
«Russland hat keinen wirklichen Handlungsspielraum mehr, seit sein Schützling [al-Assad] Syrien verlassen hat. Auch wenn mit der Türkei Garantien ausgehandelt wurden, ist es nun den Entscheiden der neuen syrischen Führung unterworfen, vor allem wegen seiner Militärbasen», sagt Belhadj Klaz. Er geht davon aus, dass Russland die künftigen Verhandlungen nicht beeinflussen kann.
Zur Erinnerung: Russland ist seit 2015 militärisch in Syrien aktiv und verfügt dort über zwei strategische Stützpunkte – einen Marine- und einen Luftwaffenstützpunkt.
«Russland hat eher ein Interesse daran, die Situation zu retten, indem es kommt und an den Verhandlungen teilnimmt», fügt der Professor hinzu.
Zu regelnde Punkte
Nach Ansicht von Belhadj Klaz muss es bei künftigen Verhandlungen vor allem um die Machtverteilung in Syrien gehen.
Die Rebellengruppe HTS kontrolliert die Provinz Idlib, die Hauptstadt Damaskus und mehrere andere Grossstädte im Westen Syriens. Weite Teile des Landes werden jedoch von anderen oppositionellen Gruppen und Fraktionen kontrolliert.
Im Nordosten des Landes kontrollieren die kurdischen Streitkräfte, die grösste ethnische Minderheit des Landes, weite Teile an der Grenze zur Türkei. In diesem Gebiet befindet sich auch die Syrische Nationale Armee, eine von Ankara unterstützte Rebellengruppe.
«Die Verhandlungen werden sich um die Verfassung drehen und vor allem um die Regierungsform, die angenommen werden soll. Wahrscheinlich wird nicht über eine zentralistische Regierung diskutiert, sondern eher um eine föderale oder regionale Ausprägung mit Autonomie für die Provinzen», so der Professor.
Dies sei eine Voraussetzung für jeden Dialog zwischen den verschiedenen Akteuren, die sich gegenwärtig das syrische Territorium teilen.
«Es wird auch um die Frage der Repräsentation ethnischer und religiöser Minderheiten gehen. Jedes Abkommen muss den Schutz der christlichen und alawitischen Gemeinschaften gewährleisten», so Belhadj Klaz.
Von zentraler Bedeutung wird auch die Frage des Abbaus des syrischen Sicherheitsapparats und der Übergangsjustiz sein, um über das Schicksal der ehemaligen Folterer des Assad-Regimes zu entscheiden.
Auch die Sicherung und Vernichtung der Chemiewaffen in Syrien wird ein Thema sein, das sich bereits jetzt als langwieriger Prozess abzeichnet, der mehrere Verhandlungsrunden erfordern wird.
Gefragt, wann solche Gespräche beginnen könnten, wagt der Professor zu prognostizieren: «So bald wie möglich, im Januar.»
Editiert von Virginie Mangin Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub
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