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Wie die UNO das traditionelle Wissen der Naturvölker schützt 

Ein nomadisches Paar putzt sich die Zähne mit Neem-Stöcken (ein indischer Baum) in Allahabad, Indien.
Ein nomadisches Paar putzt sich die Zähne mit Neem-Stöcken (ein indischer Baum) in Allahabad, Indien. AP Photo/Rajesh Kumar Singh

Das Wissen indigener Völker über die Heilkräfte der Natur ist begehrt, insbesondere bei Pharmaunternehmen. Ein neues UNO-Abkommen soll den Interessen beider Parteien gerecht werden. Wie gut ist es?

2005 hat Indien einen Kampf vor dem Europäischen Patentamt (EPA) gegen ein Patent auf das Öl des indischen Neembaums gewonnen.

Er dauerte zehn Jahre, und es ging um den Einsatz dieses Öls als Biopestizid. Das Amt hatte das Patent 1995 dem US-Landwirtschaftsministerium und dem multinationalen US-Unternehmen WR Grace erteilt.

Indische Wissenschaftler:innen argumentierten jedoch, die medizinische Wirkung des Neembaums sei Teil des traditionellen indischen Wissens.

Der Neembaum zählt seit über 2000 Jahren zu den wichtigsten Heilpflanzen in der traditionellen indischen Medizin, dem Ayurveda. Neem-Derivate werden traditionell auch zur Herstellung von Seifen und Kosmetika verwendet.

Der Fall des Neembaums gilt bei ähnlich betroffenen Ländern und indigenen Völkern als klassisches Beispiel von Biopiraterie. Dabei handelt es sich um die Verwendung von traditionellem Wissen oder genetischen Ressourcen ohne die Zustimmung der ursprünglichen Besitzenden, und ohne dass diese daraus einen Nutzen ziehen könnten.

Genetische Ressourcen wie Pflanzen, Samen, Mikroorganismen, Tierrassen oder genetische Sequenzen können nicht patentiert werden, da es sich um Naturprodukte handelt.

Dagegen können Erfindungen, die auf diesen Ressourcen basieren, durch ein Patent geschützt werden. Unternehmen nutzen genetische Ressourcen zunehmend für Kosmetika, Saatgut, Arzneimittel, Nahrungsergänzungsmittel oder in der Biotechnologie.

«Geschichte geschrieben»

Die Biopiraterie war ab 1999 Anlass für Verhandlungen in Genf über ein neues UNO-Abkommen zum Patentsystem. Insbesondere Entwicklungsländer und indigene Völker hatten sich jahrelang dafür eingesetzt.

Denn alle Länder haben laut der UNO-Biodiversitätskonvention von 1993 souveräne Rechte über ihre natürlichen Ressourcen und somit das Recht, den Zugang dazu festzulegen.

Menschen auf einer Bühne
Delegierte bei der Eröffnung der Diplomatischen Konferenz über genetische Ressourcen und damit verbundenes traditionelles Wissen. Creative Commons Attribution 4.0 International License

Es dauerte 25 Jahre, bis bei den Verhandlungen ein Kompromiss gefunden wurde, da die Positionen der Staaten weit auseinander lagen.

Die indigenen Völker hatten erstmals an Verhandlungen über einen WIPO-Vertrag teilnehmen können, offiziell als Beobachtende, aber sie konnten auch ihre Vorschläge einbringen.

Bei den Verhandlungen stiessen unterschiedliche Welten aufeinander. «Für indigene Völker ist traditionelles Wissen über die Natur nicht nur Information», sagt Preston Hardison zu SWI swissinfo.ch. Er ist politischer Berater der indigenen philippinischen Tebtebba Foundation.

Dieses Wissen sei mit ihrer Kultur, Geschichte und Identität verbunden und stamme oft von einem spirituellen Ort. Alle Pflanzen- und Tierarten seien Teil ihrer Verwandtschaft.

Im vergangenen Mai haben sich nun die 193 Mitgliedstaaten der UNO-Organisation für geistiges Eigentum WIPO in Genf im Konsens auf einen neuen Vertrag geeinigt. Er tritt in Kraft, wenn ihn 15 WIPO-Staaten ratifiziert haben.

«Wir haben heute Geschichte geschrieben», erklärte WIPO-Generaldirektor Daren Tang zum Abschluss des Abkommens vor den Medien. Es verbinde erstmals Patentregelungen und das traditionelle Wissen indigener Völker: So müssen Firmen künftig bei ihren Patentanträgen die Herkunft der genetischen Ressourcen und des damit verbundenen traditionellen Wissens offenlegen, aus denen sie ihre Produkte entwickeln.

Daren Tang
WIPO-Generaldirektor Daren Tang hält eine Rede auf der TM5-Tagung in Brüssel, Belgien, am 24. Oktober 2022. Nicolas Economou

Den Inhalt beschränkt

In dem verabschiedeten Abkommen geht es vor allem um mehr Transparenz im Patentsystem. Denn im Laufe der Jahre wurde der Inhalt der Verhandlungen eingeschränkt, um einen Kompromiss zu erzielen.

Die Biopiraterie ist im Abkommen nicht erwähnt. Auch Bestimmungen zum Aufteilen der Gewinne aus der Nutzung von genetischen Ressourcen und traditionellem Wissen fehlen. Dieses sogenannte «Benefit Sharing» ist im Patentsystem kein Thema.

Was bedeutet das nun für die Interessen der indigenen Völker? «Das WIPO-Abkommen erhöht die Transparenz über genetische Ressourcen und des traditionellen Wissens in Patentanmeldungen, bietet jedoch keinen direkten Schutz für die genetischen Ressourcen indigener Völker», sagt der Schweizer Unterhändler Marco D’Alessandro vom Eidgenössischen Institut für Geistiges Eigentum (IGE) gegenüber SWI swissinfo.

Aber im Zusammenspiel mit anderen Abkommen wie der BiodiversitätskonventionExterner Link und dem dazugehörenden Nagoya-ProtokollExterner Link trage das WIPO-Abkommen zu einem besseren Schutz bei.

Zu diesem Zusammenspiel gehören weiter die nationalen Gesetze, mit denen die internationalen Abkommen umgesetzt werden. Das Zusammenspiel sei auch förderlich für das «Benefit Sharing», erklärt D’Alessandro.

Wenn also eine Firma Pflanzen oder Mikroorganismen in einem Land studiert, um neue Produkte herzustellen, muss sie dort die entsprechenden Bewilligungen haben.

Dabei wird auch vertraglich geregelt, was vom künftigen Gewinn an das Land und an indigene Völker zurückgeht. Das kann Geld, eine Zusammenarbeit oder Wissenstransfer sein.

Ein erster Schritt

«Wir freuen uns, dass wir eine Einigung erzielen konnten», sagte June Lorenzo von den indigenen Völkern der Pueblo Laguna und Diné/Navajo im US-Bundesstaat New Mexico.

Die Menschenrechtsanwältin war während der Verhandlungen Mitglied des Indigenous Peoples› Caucus. «Die Offenlegung ist ein kleiner, aber wichtiger erster Schritt, um sicherzustellen, dass die Ressourcen der indigenen Völker nicht ohne ihre Zustimmung entnommen werden.»

Die Offenlegung könnte eine Grundlage für den Vorteilsausgleich sein, sagt sie.

Ein Mann in einem Baum
Hindu-Priester Sadhu Adbangnath lebt in einem einzigartigen Protest auf einem Baum. Der Grund ist ein Bauunternehmer, der einen Tempel abgerissen hat, in dem er beten wollte. Keystone

Auch Nirmalya Syam vom Genfer Think Tank South Centre bezeichnete die Offenlegung als wichtigen Schritt zur Eindämmung der widerrechtlichen Aneignung von genetischen Ressourcen und traditionellem Wissen.

Dagegen betonte Grega Kumer vom Internationalen Verband der Pharmaindustrie IFPMA, es müsse sichergestellt werden, dass der Vertrag nicht zu einer weiteren Rechtsunsicherheit führe, die zu den bestehenden nationalen Rechtsvorschriften über die Offenlegung von Patenten hinzukomme.

Frage der Sanktionen

Bei den Verhandlungen lange strittig war die Art von Sanktionen für den Fall, dass Firmen bei der Offenlegung falsche Angaben machen.

Für die Industrieländer, darunter die Schweiz, war es wichtig, dass Patente deswegen nicht annulliert werden. Denn dies würde aus ihrer Sicht die Innovationsmöglichkeiten beeinträchtigen.

«Wir wollten ein Instrument schaffen, das sowohl Innovationen unterstützt als auch zu einem besseren Schutz der genetischen Ressourcen und des traditionellen Wissens beiträgt», so Marco D’Alessandro.

Das Abkommen sollte aber nicht konkurrierenden Unternehmen dazu dienen, Patente anderer Firmen mit der Behauptung zu invalidieren, die Herkunft sei unzureichend angegeben.

Die Schweiz zählt zu den über 30 Staaten, die bereits eine Offenlegungspflicht kennen. Im Schweizer Patentrecht gilt seit 2008 auch, dass vorsätzlich falsche Angaben von Patentbewerber:innen zur Herkunft von genetischen Ressourcen oder zu traditionellem Wissen mit einer Busse bis 100’000 Franken bestraft werden.

June L. Lorenzo
June L. Lorenzo, Rechtsanwältin und Beraterin für Fragen indigener Völker bei der Counsel to American Indian Law Alliance in Laguna Pueblo, USA, 2011. Patricia Leiva/OAS

Entsteht den Patenten künftig Gefahr? Eher nicht, denn nur wegen fehlerhafter Angaben bei der Herkunftsoffenlegung können sie nicht widerrufen werden.

Allerdings müssen die fehlerhaften Angaben korrigiert werden. Ist die Offenlegung aber in betrügerischer Absicht falsch, können die Staaten Sanktionen vorsehen, die auch die Invalidierung von Patenten umfassen. Solche Strafen hängen aber immer von der nationalen Gesetzgebung ab.

Laut Hardison von der Tebtebba Foundation können sich allerdings die meisten indigenen Völker die nötigen Gerichtsverfahren nicht leisten.

Aufbau von Datenbanken

Die USA und Japan hatten immer dafür plädiert, an Stelle einer Offenlegungspflicht mehr Datenbanken aufzubauen.

Das WIPO-Abkommen umfasst nun sowohl die Offenlegungspflicht als auch das Anlegen von Datenbanken.

Für die Schweiz beispielsweise geht dies Hand in Hand: Wenn Firmen angeben, woher sie die Pflanzen in ihrem Patent haben, können die Patentbüros in jenem Land anhand der entsprechenden Datenbanken prüfen, ob die Erfindung neu ist.

Die indigenen Völker forderten aber, dass die geplanten Datenbanken nur für Patentbüros verfügbar sind. Sie befürchten, dass es ausgenützt würde, wenn die Datenbanken öffentlich zugänglich wären.

Zudem wollen sie spirituelle Aspekte ihres Wissens nicht mit der ganzen Welt teilen, etwa Wissen, das ihnen Vorfahren vermittelten und ihnen heilig ist.

Schliesslich haben die indigenen Völker erreicht, dass sie beim Aufbau von Datenbanken einbezogen werden, um mitzubestimmen, welches traditionelle Wissen darin aufgenommen wird. Und sie sind dabei, sollte das Abkommen dereinst weiterentwickelt werden.

Editiert von Imogen Foulkes/vm, aus dem Englischen übertragen von Balz Rigendinger

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