Wird der Menschenrechtsrat zum «Mini-Sicherheitsrat»?
Während sich im Sicherheitsrat die Blockaden häufen, wenden sich die UNO-Mitgliedstaaten immer häufiger an den Menschenrechtsrat in Genf. Dort werden Resolutionen verabschiedet, die in New York keine Chance hätten.
Anfang April forderte eine Resolution des Menschenrechtsrats die internationale Gemeinschaft auf, den «Verkauf und Transfer von Waffen und Munition“ an Israel zu stoppen und verwies auf das «plausible Risiko eines Völkermords in Gaza».
Im UNO-Sicherheitsrat, wo die USA als enger Verbündeter Israels über ein Vetorecht verfügen, wäre diese harte Sprache undenkbar.
Das Beispiel ist kein Einzelfall. Immer häufiger werden in Genf, dem Sitz des UNO-Gremiums, das über die Einhaltung der Menschenrechte weltweit wacht, Anträge diskutiert, die in New York am Veto der Grossmächte China, USA, Frankreich, Grossbritannien und Russland scheitern würden.
«Der Menschenrechtsrat neigt immer mehr dazu, Funktionen zu übernehmen, die sonst vom Sicherheitsrat wahrgenommen würden», bestätigt Felix Kirchmeier, Leiter der Menschenrechtsplattform an der Akademie für humanitäres Völkerrecht in Genf.
Kein Veto, mehr Mitglieder
Obwohl nur der Sicherheitsrat Sanktionen verhängen, eine militärische Intervention anordnen oder den Internationalen Strafgerichtshof anrufen kann, mischen sich die Vertreter:innen der Mitgliedstaaten im Menschenrechtsrat nicht selten in die «Friedens- und Sicherheits»-Angelegenheiten ihrer New Yorker Kolleg:innen ein.
Zum Beispiel, indem sie einen Waffenstillstand fordern oder Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen einleiten.
Denn im Menschenrechtsrat hat kein Land ein Vetorecht. Ausserdem ist das Gremium repräsentativer für die gesamte Staatengemeinschaft, denn es hat 47 Mitglieder im Vergleich zu den 15 des Sicherheitsrats, von denen fünf ständige Mitglieder mit Vetorecht sind.
Und auch wenn die Entscheidungen des Menschenrechtsrates rechtlich nicht bindend sind, so haben sie doch moralisches Gewicht.
Die wachsende Bedeutung dieses Gremiums wird deutlich, wenn man sich die immer länger werdenden Tagesordnungen seiner drei jährlichen Sitzungen anschaut.
In diesem Frühjahr verhandelten die Diplomat:innen sechs Wochen lang im Palais des Nations ‒ ein Rekord. Der Grund dafür liegt in der Vielzahl der verabschiedeten Resolutionen, die wiederum Folgemassnahmen erfordern.
Das Bewusstsein wächst
«Ich würde nicht sagen, dass der Sicherheitsrat ersetzt wird, aber ich glaube, es gibt ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass andere Teile der Vereinten Nationen nicht ausreichend genutzt werden», sagt Louis Charbonneau, Direktor für die Vereinten Nationen bei Human Rights Watch, einer internationalen NGO in New York.
«Der Menschenrechtsrat bietet uns einige Optionen; wenn wir eine Untersuchungskommission wollen, die sogar kriminelle Beweise sammeln kann, brauchen wir den Sicherheitsrat dafür nicht.»
Seit seiner Gründung 2006 hat der Menschenrechtsrat 38 Untersuchungsgremien eingerichtet. Diese bestehen aus unabhängigen Expert:innen, die Gräueltaten etwa in den Kriegen in der Ukraine, Syrien oder Myanmar unter die Lupe nehmen. Alles Konflikte, die im Sicherheitsrat «blockiert» sind.
«Die Arbeit der Ermittler hat vielleicht nur geringe unmittelbare Auswirkungen vor Ort, aber sie ebnet den Weg für künftige Gerichtsverfahren, wenn die Waffen schweigen», erklärt Felix Kirchmeier.
«Das ist eine sehr wichtige Rolle für den Menschenrechtsrat, der in der Lage ist, Verantwortlichkeiten festzustellen, selbst wenn der Sicherheitsrat blockiert ist.»
Die von der Syrien-Untersuchungskommission gesammelten Informationen dienten der deutschen Justiz unter anderem in einem historischen Prozess in Koblenz, in dem zum ersten Mal zwei ehemalige Offiziere des syrischen Regimes verurteilt wurden, einer von ihnen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Mehr Prävention
Marc Limon, Direktor der Universal Rights Group, einem Think Tank in Genf, begrüsst zwar die Bemühungen des Menschenrechtsrats, Verantwortlichkeiten zu bennnen, ist aber der Meinung, das Gremium müsse in den ersten Phasen einer Krise häufiger präventiv aktiv werden.
«Viele Situationen sind viel zu ernst und viel zu weit fortgeschritten, als dass der Rat etwas tun könnte. Sie sollten dem Sicherheitsrat zur Kenntnis gebracht werden, aber leider ist das Gegenteil der Fall. Wenn Konflikte wegen des Vetos nicht in New York behandelt werden können, bringen die Westmächte sie nach Genf, um zu zeigen, dass die Vereinten Nationen ‹etwas tun'», sagt er.
Seiner Meinung nach sollte sich das Genfer Gremium nicht nur zu «Sondersitzungen» über Konflikte treffen, sondern auch Alarm schlagen und einen Dialog in Gang setzen, wenn sich eine Krise anbahnt.
Wenn die Krise eskaliere, etwa zu einem bewaffneten Konflikt, solle der Menschenrechtsrat den Sicherheitsrat zum Handeln auffordern.
Polarisierung der Debatten
Der Menschenrechtsrat ermöglicht Schritte, die für den Sicherheitsrat undenkbar wären, vor allem die gezielte Ansprache eines ständigen Mitglieds des Sicherheitsrats.
Das Genfer Gremium hat dies erstmals 2022 getan, als es einen Sonderberichterstatter für Russland ernannte.
Die Verlagerung der Spannungen von New York nach Genf bleibt jedoch nicht ohne Folgen für die teilweise sehr hitzigen Debatten. «Die Polarisierung und die Spannungen im Rat waren wohl noch nie so gross», sagt Kirchmeier.
Diese Beobachtung habe sich mit den Kriegen in der Ukraine und im Gazastreifen noch verstärkt. Die Staaten hätten sich für eine Seite entscheiden müssen und die Positionen hätten sich verhärtet, so der Wissenschaftler.
Die Zuspitzung der Konfliktdebatten habe die Konsensfindung bei anderen Themen erschwert, da das Vertrauen zwischen den Delegationen erschüttert wurde.
Normalerweise entscheidet der Rat nach dem Konsensprinzip: Wenn es keine Gegenstimmen gibt, werden Resolutionen ohne Abstimmung verabschiedet.
Der zunehmende Einsatz von Untersuchungen, die gegen den Willen der betroffenen Länder lanciert werden, führt jedoch immer wieder zu Widerständen.
So lehnte der Rat 2021 zum ersten Mal in seiner Geschichte eine Resolution ab, die eine erneute Untersuchung des Jemen vorsah.
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Ein Kampf, der sich nach New York verlagert
Die Spannungen in Genf wirken sich auch auf New York aus, wo die finanziellen Entscheidungen getroffen werden.
«Es gibt einen wachsenden Druck, die Finanzierung der vom Menschenrechtsrat in Auftrag gegebenen Untersuchungen zu kürzen», sagt Louis Charbonneau.
Das Fifth Committee, ein Ausschuss der Generalversammlung, der für Budgetfragen zuständig ist, ist der Schauplatz dieses Kampfes. Eine Gruppe von Ländern, angeführt von China und Russland und unterstützt von Ägypten, Nicaragua, Venezuela und Nordkorea, versucht, die Finanzierung der in Genf beschlossenen Untersuchungen zu verhindern.
«Diesen Ländern gelingt es nicht, im Menschenrechtsrat Mandate zu blockieren, die sie nicht wollen. Also versuchen sie, ein Hintertürchen zu finden, um die Finanzierung dieser Mechanismen zu verhindern. Das machen sie schon lange, aber sie sind aggressiver geworden», fügte Charbonneau hinzu.
Im vergangenen Jahr schlug beispielsweise der Sudan vor, die Finanzierung einer Mission zu streichen, die sich mit den Verbrechen während des Krieges im Land befassen sollte.
Im Jahr zuvor hatte Äthiopien einen ähnlichen Vorstoss unternommen, der eine Untersuchung in der Region Tigray betraf. Derartige Bemühungen enden in der Regel in einer zu geringen Zuweisung von Ressourcen, sowohl finanzieller als auch personeller Art.
Die USA und die europäischen Staaten, die den grössten Beitrag zum UNO-Budget leisten, blockieren solche Versuche grundsätzlich. Sie selbst haben jedoch Israel bei seinen Bemühungen unterstützt, eine Untersuchungskommission zu Israel und den palästinensischen Gebieten zu schwächen.
Bald ein Hauptorgan?
Im Vergleich zu anderen UNO-Organisationen verfügt der Menschenrechtsrat nur über geringe Ressourcen. Das gesamte Menschenrechtssystem, neben Frieden und Entwicklung eine der drei Säulen der UNO, erhält nur rund 4% des UNO-Budgets.
Hinzu kommen die finanziellen Schwierigkeiten der Vereinten Nationen. Mehrere Länder, darunter der grösste Beitragszahler, die USA, haben im vergangenen Jahr ihre Beiträge nicht pünktlich bezahlt, was zu einer Liquiditätskrise führte. Die Folge war ein Einstellungsstopp, von dem insbesondere das Personal der Untersuchungsmission im Sudan betroffen war.
Der Menschenrechtsrat ist bis heute ein subsidiäres Organ geblieben. Seine Mitglieder müssen sich damit begnügen, ohne wirkliche Befugnisse zu argumentieren, zu verurteilen und zu untersuchen ‒ bis der Rat vielleicht eines Tages ein Hauptorgan wie der Sicherheitsrat oder der Wirtschafts- und Sozialrat wird.
Derzeit läuft ein Revisionsprozess für den Zeitraum 2021 bis 2026. In dessen Rahmen stimmt die Generalversammlung darüber ab, ob der Menschenrechtsrat ein Hauptorgan werden soll oder nicht. Doch die Chancen stehen schlecht.
«Im Moment ist alles, was mit Reformen der Vereinten Nationen zu tun hat, zum Stillstand gekommen. Und solange ständige Mitglieder des Sicherheitsrats in Konflikte verwickelt sind, sind keine ernsthaften Veränderungen zu erwarten», meint Kirchmeier.
Editiert von Virginie Mangin, Übertragung aus dem Französischen: Michael Heger
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