Der Kitt, der die heterogene Schweiz zusammenhält
Warum gelingt es den vier Sprachgemeinschafen, friedlich miteinander zusammenzuleben? Öffnen sich allenfalls gefährliche Gräben? Der Politologe Michael Hermann erklärt, wie es die Schweiz geschafft hat, über Jahrhundert geeint zu bleiben.
Die Schweiz ist ein kleines Wunder. Trotz vieler regionaler Unterschiede in Bezug auf Sprache, Kultur, Geografie und Wirtschaft ist die Schweiz eine Einheit geblieben und konnte ihre Identität im Laufe der Geschichte sogar festigen.
Doch welche Kräfte halten das heterogene Gebilde Schweiz zusammen? Der Politologe Michael Hermann kommt in seinem Buch «Was die Schweiz zusammenhält» zum Schluss, dass ein mehrschichtiges Gewebe die diversen Landesteile zusammenschweisst.
swissinfo.ch: Mit dem Spruch «La Suisse n’existe pas» – Die Schweiz existiert nicht – begrüsste der französisch-schweizerische Künstler Ben Vautier die Gäste des Schweizer Pavillons an der Weltausstellung von Sevilla im Jahr 1992. Hat dieser Spruch etwas Wahres?
Ein Gefälle zwischen Stadt und Land
Seit rund 10 Jahren werden bei nationalen Abstimmungen auch die regionalen Ergebnisse erfasst und grafisch auf Karten gezeigt. Eine Analyse dieser regionalen Ergebnisse zeigt, dass es in der Schweiz einen Graben zwischen Stadt und Land sowie zwischen den Städten und ihren Agglomerationen gibt. Nach Ansicht von Michael Hermann ist diese Bruchlinie künstlich geschaffen worden. «Die Karten der Abstimmungen teilen die Schweiz in zwei Teile.Auf der einen Seite die Befürworter und auf der anderen Seite die Gegner. Doch in Wirklichkeit gibt es keine so klare Aufteilung. Wenn man die prozentualen Stimmverteilungen betrachtet, sieht man, dass der Übergang von Ja-Sagern zu Skeptikern einer Volksinitiative in den Regionen graduell verläuft. Es gibt also keine so klare Spaltung zwischen Stadt und Land, aber die Sichtweisen auf Abstimmungsunterlagen sind schon häufig unterschiedlich. Diese Situation hat klare Auswirkungen auf das politische Klima, wie wir jüngst bei den US-Wahlen sehen konnten. Es besteht das Risiko, dass sich die Einwohner urbaner Gebiete und solcher ländlicher Gebiete nicht mehr verstehen, weil sie sich nur unter ihresgleichen bewegen. Sie leben wie in Ghettos, in denen sich nur auf Leute treffen, die genauso denken wie sie.»
Michael Hermann: Wenn wir die Entstehung der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert und die zugrunde liegende Logik betrachten, dürfte die Schweiz eigentlich nicht existieren. Denn es waren die gemeinsame Sprache und Kultur, welche eine Nation ausmachten. Aus dieser Zeit stammt auch der Begriff «Kulturnation», der genau das deutlich macht. Zudem befand sich die Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert im Auge eines Orkans – eingekeilt zwischen Deutschland, Frankreich und Italien, das heisst drei Ländern mit einem stark nationalen Denken. Doch statt auseinanderzufallen, ist die Schweiz selbstbewusster und stärker geworden. Im Laufe der Jahrzehnte konnte sie die linguistischen und kulturellen Bruchstellen mit einem stabilen Gewebe kitten, das auf effizienten Institutionen und einem ausgeprägten Föderalismus fusste. Es grenzt an ein Wunder, dass die Schweiz diesen Orkan überdauert hat.
swissinfo.ch: Die Schweiz funktioniert dank ihrer Institutionen. Kann man die Institutionen als «Klebstoff der Nation» bezeichnen?
M.H.: Die Institutionen spielen auf alle Fälle eine zentrale Rolle. Denken wir etwa an das italienischsprachige Tessin und die vier italienisch-bündnerischen Täler, die von einigen Persönlichkeiten Italiens als abgetrennte Territorien gesehen wurden, welche wieder ins italienische Heimatland eingegliedert werden müssten. Die Befürworter dieser Theorie waren fest überzeugt, dass die kulturellen Beziehungen nach Italien stärker seien als die verbindenden Elemente mit der restlichen Schweiz. Das Tessin war sich als Sprachminderheit hingegen bewusst, dass die Schweizer Institutionen und der Föderalismus dem eigenen Landesteil mehr Einfluss verleihen würden als die Position in einem zentralistischen Staatssystem wie Italien.
swissinfo.ch: Die Schweiz wird folglich von einer Art Gewebe zusammengehalten, das die Divergenzen und Spannungen auffängt?
M.H.: Die Schweiz ist tatsächlich ein Land mit Divergenzen und Spannungen. Konflikte sind fast vorprogrammiert. Doch das Gewebe der Schweiz ist stark, nicht weil es keine Spannungen kennt, sondern weil sich in ihm verschiedene Spannungsfelder überlagern. Kultur und Religion stellen eine erste Ebene eines solchen Spannungsfeldes dar. Aber es gibt viele weitere Gegensätze, etwa Stadt und Land, Flachland und Berggebiete, Reiche und weniger Reiche. Die Spannungen betreffen geografisch unterschiedliche Gebiete und werden gleichzeitig durch einen feingliedrigen Föderalismus etwas aufgefangen.
Ganz entscheidend ist, dass ihre inneren Gegensätze nicht alle entlang der gleichen Linien verlaufen, sondern sich kreuzen. Der Gegensatz zwischen Protestanten und Katholiken verlief nie zwischen den Sprachgrenzen. Nur in einem Fall überlagerten sich diese Linien: In den 1960er- und 1970er-Jahren, als der Kanton Jura seine Unabhängigkeit vom Kanton Bern forderte. Der Graben verlief damals nicht entlang einer Sprachgrenze, sondern einer Religionsgrenze. Nur der katholische Teil des Kantons Jura trennte sich vom Kanton Bern. Einerseits gab es diesen linguistisch-religiösen Gegensatz, andererseits die Angst vor Diskriminierung und wirtschaftlichen Nachteilen gegenüber dem Rest des Kantons. Die Summe dieser Faktoren führt zur einzigen separatistischen Bewegung der Schweiz.
swissinfo.ch: Die Abstimmung über den Europäischen Wirtschaftsraum EWR im Jahr 1992 verschärfte die Spannungen zwischen der französischen und deutschen Schweiz. Welche Folgen hatte diese Abstimmung auf den Zusammenhalt des Landes?
M.H.: Die Westschweizer Kantone stimmten mit grosser Mehrheit für den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum. Doch die Deutschschweizer Kantone drehten das Westschweizer «Ja» in ein hauchdünnes «Nein» der Gesamtschweiz. Die französische Schweiz fühlte sich daher von der Mehrheit der Deutschschweizer unterdrückt beziehungsweise dominiert. Damals kam das Gefühl auf, in einer Art Ghetto zu leben. 1996 nahmen die Spannungen noch zu, als die nationale Fluggesellschaft Swissair entschied, die meisten Interkontinentalflüge am Flughafen Genf zu streichen.
In der Zwischenzeit haben die Westschweizer die Ärmel hochgekrempelt, sich von der Deutschen Schweiz emanzipiert und stärker an Europa orientiert. Ganz abgesehen von der Debatte, welche Fremdsprache in der Primarschule unterrichtet werden soll – eine Luxussorge – ist das Verhältnis zwischen der Deutschschweiz und der Romandie schon lange nicht mehr so entspannt gewesen wie heute.
Das Buch
Michael Hermann, «Was die Schweiz zusammenhält – Vier Essays zu Politik und Gesellschaft eines eigentümlichen Landes», Zytglogge Verlag, Basel 2016
In den 1960er und 1970er Jahren hat der Kanton Jura der Schweiz Sorgen bereitet. Heute ist es das Tessin, das sich vernachlässigt fühlt und häufig aufbegehrt.
Ja, vor allem das Tessin fühlt sich an den Rand gedrängt. Tatsächlich finden sich hier die gefährlichsten Spannungen im helvetischen Gewebe. Wie einst im Kanton Jura, gibt es auch im Tessin eine Reihe von Faktoren, die zusammenkommen. Einerseits bildet der italienischsprachige Landesteil eine klare Minderheit in diesem Land, andererseits befindet es sich in einer ungünstigen geografischen Lage: Durch den Gotthard ist der Kanton vom Rest der Schweiz getrennt. Dazu kommt, dass der Strukturwandel und die Öffnung gegenüber Europa auf das Tessin prekärere Auswirkungen als auf den Rest der Schweiz haben. Alles zusammen führt zum Gefühl, vom Rest der Schweiz abgehängt zu werden
swissinfo.ch: Welche Gründe haben zu dieser Situation geführt?
M.H.: Es gibt eine Reihe von Gründen. Sicherlich spielt der Migrationsdruck eine Rolle. Zwar befinden sich auch Basel und Genf an einer Grenzlage, auf der Südseite der Alpen heisst der Nachbar jedoch nicht Deutschland oder Frankreich, sondern Italien, und dieses befindet sich in einer besonders schwierigen wirtschaftlichen Lage.
Dazu kommt ein ganz entscheidender Faktor: Das Tessin hat kein starkes urbanes Zentrum. Lugano ist zwar ein recht grosser Siedlungsraum geworden, es fehlen jedoch der urbane Geist und eine breite kreative Klasse, ebenso der Wille zu einer echten Stadtentwicklung mit einem starken öffentlichen Verkehrsnetz.
Das fördert die Abwanderung Hochqualifizierter und führt dazu, dass ein positives Gegengewicht zum zuwanderungskritischen Diskurs im Tessin fehlt. Eine echte Chance für das Tessin wird deshalb der Ceneri-Basistunnel sein, der Lugano, Locarno und Bellinzona viel näher zusammenbringen wird. Dies könnte die dringend benötigte urbane Entwicklung in Gang setzen.
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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