Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Jenisch: Die blumigste Sprache der Schweiz (I)

Venanz Nobel im Juni auf dem Flohmarkt auf dem Petersplatz in Basel. Keystone

Farbig wie Magerwiesen an der Landstrasse ist die Sprache der jenischen Fahrenden. Kaum jemand hat aber ein Wort davon gehört.

Venanz Nobel, selber Jenischer, gibt in einer zweiteiligen Serie einen Einblick in die Sprache dieser Fahrenden.

«Nein, es ist keine Geheimsprache», lächelt mein Gegenüber. «Sie ist immer schon in Beizen und auf Marktplätzen verwendet worden. Aber man soll sie heute nicht in ein Lexikon pressen, das würde sie steril machen.» Die Rede ist von einer fast unbekannten Sprache, dem Jenischen.

Jenisch «tiibere» heisst jenisch sprechen. Venanz Nobel will einen Anstoss geben zur Förderung dieser Sprache. Darum hat er beim Bundesamt für Kultur ein Projekt eingereicht: Interviews in Jenisch sollen aufgenommen, schriftliche Zeugnisse gesammelt werden.

Vielseitiger Bewahrer der Kultur

Zudem arbeitet er mit an einem Nationalfonds-Projekt zur Geschichte der Jenischen, Sinti und Roma in der Schweiz von 1800 bis zur Gegenwart.

Der 47-jährige Nobel ist nicht Linguistikprofessor, sondern Marktfahrer. Und freierwerbender Buchhalter. Und Schöpfer von Kunstobjekten aus alten Lampen.

Vor allem aber ist er ein bewusster Vertreter seines Volkes. Er gehört zu einer der grossen jenischen Sippen. «Die Nobel sind ein jenisches Geschlecht; ich habe allerdings Verwandte, die sich kaum noch an ihre Herkunft erinnern», sagt er und fügt an: «Ein bekannter Rechtsanwalt beispielsweise.»

Venanz, der eine Klosterschule besuchen konnte, ist als Intellektueller ein Wortführer unter den Jenischen der Schweiz.

Poetisch und vergnüglich

Er hat keine Elendsgeschichte zu erzählen, obwohl er einen Teil der Geschichte dieses Volkes miterlebt hat. Nobels Vater war ein Kind der Landstrasse: Er war von der Pro Juventute den Eltern weggenommen und in Heimen «versorgt» worden.

Venanz hatte es besser, er wuchs bei seinem Vater und dessen Frau auf, zwischen den Kulturen. Als er erwachsen wurde, machte er sich auf, seine Angehörigen zu suchen. «Ich war immer zwischen Stuhl und Bank», sagt er. «Ich kannte die jenische und die nichtjenische Seite.»

Wichtig für eigene Identität

Nobel spricht von «Identitätsfindung». Neben dem Schweizerdeutschen lernte er jenische Sprachbrocken, wenn er mit dem Vater in den Schulferien durch die Schweiz ziehen durfte, von einem Albergo durch einen Heugaden zur nächsten Taglohnstelle.

Nobel hat im Unterschied zu anderen Jenischen die Schulen besucht – und der Kleine in der Schulbank wusste dank seiner Schweizreisen mehr von Geografie oder Wirtschaftskunde als manche Mitschüler.

Heute spricht Nobel fliessend Jenisch, er braucht es im Umgang mit seiner Frau und seinen Kindern. Und so halten wiederum die Kinder von Nobels Nachbarn ihren Eltern manchmal Ausdrücke vor, die jene im Leben nie gehört haben.

Amalgam

Wörter einer Sprache, die Justiz- und Polizeibehörden schon vor hundertfünfzig Jahren zu erforschen suchten. «Das Jenische hat zwei Wurzeln», sagt Nobel.

«Die lokale Sprache am Ort, wo die Fahrenden leben, bildet ein Gerüst, daneben hat die Sprache auch etwas völlig Eigenständiges in Wortbildung, Bedeutung und Gebrauch. Das kann man eigentlich in einem Lexikon gar nicht festhalten», sagt er.

«Denn was ein jenisches Wort meint, wechselt nach Situation, Umfeld eines Satzes, Betonung von Ausdrücken und manchmal auch je nachdem, ob die angesprochene Person ein Mann oder eine Frau ist.»

Der Looli

Manche Wörter sind einfach hübsche Verballhornungen aus dem Deutschen («Scheinlig» für Augen). Andere stammen aus dem Jiddischen («schofel»: schlecht), aus der Roma-Sprache («mulo » für tot), aus dem Keltischen gar, wie Linguisten meinen («Fäme»: Hand).

Dann gibt es aber auch Wörter, für die bisher keine Verwandtschaft gefunden werden konnte («herlems»: an dieser Stelle). Vielen Wörtern ist eine poetische Qualität eigen: «Wenn der Polizist im Wohnwagenlager gewesen ist, kann dieses unangenehme Ereignis besser bewältigt werden, indem man dem Mann wenigstens einen hübschen Namen anhängt.» Polizist heisst «Looli». Venanz fügt hinzu: «Eine Sprache soll auch Spass machen.

Im zweiten Teil der kleinen Serie erzählt Venanz Nobel unter anderem, wie die Jenischen als kreative Sprachschöpfer einen Ausdruck für «U-Boot» suchen – und finden.

swissinfo und Willi Wottreng, sda

In der Schweiz leben über 30’000 Jenische.
Zwischen 1926 und 1972 wurden Jenische Opfer des Hilfswerks «Kinder der Landstrasse»
Über 600 Kinder wurden ihren Familien entrissen.
Viele jenische, aber auch andere Frauen wurden zwangssterilisiert.

Die wenigsten wissen, dass die Jenischen ihre eigene Sprachen sprechen.

Venanz Nobel versucht, das Jenische zu bewahren.

Jenisch ist eine lebendige Sprache, die nicht in einem Lexikon festgehalten werden kann.

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft