Jenisch: Sprache entsteht auch am Lagerfeuer (II)
Nur wenige wissen, dass die Jenischen eine eigene Sprache sprechen. Venanz Nobel, selber Jenischer, zeigt, wie lebendig diese Sprache sein kann.
Jenisch entwickelt sich stetig weiter, auch dank Chat-Foren auf Internet-Seiten, die Nobel betreut.
Jenisch wird auch in der Westschweiz und im Tessin gesprochen sowie in allen europäischen Ländern von Holland über England bis in Frankreichs Süden. Verstehen sich denn Reisende aus verschiedenen Winkeln Europas, wenn sie sich begegnen?
«Ja», antwortet Nobel, «der Wortschatz ist dafür gross genug.» In Frankreich verwendeten die Reisenden allerdings eher die französische Grammatik, im deutschen Sprachraum die deutsche.
«Sprache für die Wissenden»
Als Venanz Nobel genug vom Klostergymnasium hatte, machte er den kaufmännischen Abschluss und wohnte bald im Wohnwagen. So stiess er zur Bewegung der Fahrenden, die in den siebziger Jahren in der Schweiz losbrach: Sie besetzten mit 80 Wohnwagen den Lido von Luzern, um für mehr Lebensraum zu demonstrieren – ein Schlüsselerlebnis für alle, die dabei waren.
Heute hat der Kampf für die Interessen seines Volkes andere Formen angenommen: Nobel betreibt und beaufsichtigt eine Reihe von Internet-Sites. Er ist Webmaster des jenischen Kulturverbands Österreich, er pflegt ein Forum auf einer deutschen «Zigeuner»-Site, und er hilft mit, unter www.jenisch.info eine europäische Plattform aufzubauen.
Keine Berührungsängste mit High-tech
Er gehört zu einer für moderne Technik offenen Volksgruppe, die ihre Sprache gerne bis aufs Keltische zurückführt, und die gewiss so schweizerisch ist wie andere, die sich als die wahren Tellensöhne und -töchter verstehen.
«Die Jenischen sind, im Unterschied zu den späteren Roma-Zigeunergruppen, nicht von aussen zugewandert», erklärt Nobel und vermutet: «Sie sind vielleicht gar die Urschweizer und Ureuropäer.»
Tatsächlich werden Jenische schon in mittelalterlichen Schriften als Teil der hiesigen Bevölkerung erwähnt. Und was bedeutet das Wort «jenisch»? Nobel zitiert die verbreitetste Erklärung: «Es stammt möglicherwiese von einem Sanskrit-Wort, das «Wissen» bedeutet.»
Die Zeiten ändern sich, die Jenischen werden bleiben, davon ist Nobel überzeugt. Auch er ist mittlerweile in eine feste Wohnung gezogen und lebt als «Betonjenischer» in Basel.
Hauptsache, es wird kommuniziert
Der Chat im Internet hat zwar weniger Charme als der Plausch am Lagerfeuer, aber einen ähnlichen Zweck wie jener: kommunizieren, Erfahrungen austauschen, Ideen entwickeln. Im Austausch hat sich die jenische Sprache weiterentwickelt, kam es etwa zum hübschen Wort «Biberlig» für den Kühlschrank – von «bibere», frieren.
Oder zum Wort «wiitröhrle» für telefonieren. Nur zurückhaltend gibt Nobel den einen oder andern Sprachbrocken frei. Er weiss, dass es Angehörige seines Volkes gibt, die weiterhin vor Verfolgungen Angst haben und in jeder Preisgabe von Wissen über die jenische Sprache ein Einfallstor für Verfolgungsbehörden sehen.
Das jenische U-Boot
Bei der sechsten Tasse Kaffee – schon der Vater von Venanz war in allen Stammkneipen unter dem Namen «Der Café crème» bekannt – debattieren wir über die Weiterentwicklung von Sprachen.
Nobel erzählt, wie das jenische Wort für «Unterseeboot» erfunden wurde. «Ein Jenischer wird kaum je im Leben in einem Unterseeboot fahren, am Lagerfeuer wird aber gerne fabuliert», erzählt er.
Es sei wirklich am Lagerfeuer passiert. «Wir unterhielten uns über die Möglichkeiten der jenischen Sprache.» Und einer habe der Runde das absurde Problem gestellt: «Was heisst U-Boot?»
Gemeinsam kam man auf die Lösung: «Ein U-Boot ist ja gleichsam ein Wohnwagen unter Wasser», so Nobel. Wagen heisst ‹Rotl›, für ‹unter etwas› braucht man ‹unterkünftig›, Wasser ist ‹Fludi›. Also ist das U-Boot ein ‹unterkünftiger Fludirotl'».
Neuschöpfung macht ihren Weg
Das Wort ist etwas länger als «U-Boot «, aber am Lagerfeuer nimmt man sich Zeit. Mittlerweile kennen es wohl alle Jenischen. Die Erfindung gilt ihnen als Beweis für die Anpassungsfähigkeit ihrer Sprache.
«Der grösste Irrtum der Sprachforscher», schliesst Nobel, «war es, das Jenische mit der ‹Gaunersprache› zu verwechseln, die als ‹Rotwelsch› in die Sprachwissenschaft eingangen ist». Wobei «rot» und «welsch» für fremd und unverständlich steht. «Eine solche Gaunersprache hat es vermutlich nie gegeben», sagt Nobel.
Bahnhof für Aussenstehende
Die Leute auf der Strasse, auf Kilbiplätzen, im Rheinhafen oder auch im Gefängnis hätten einfach Sprachbrocken gebraucht, die ihnen, nicht aber der Polizei und Untersuchungsrichtern, vertraut und verständlich waren, «ähnlich wie Bauarbeiter heute ein Baustellen-Babylonisch reden: einen Mix von Türkisch und Italienisch und Serbisch».
Das Jenische aber sei immer eine eigene Sprache gewesen. Und einer der verborgenen Reichtümer dieses Landes. Wer mit Jenischen zusammenkommt, lernt es kennen. «Tämmer en Laschi» – Gib mir einen Kaffee «, sagt mein Gegenüber.
Im übrigen, findet Nobel, «darf der Reiz des Geheimnisvollen um diese Sprache bleiben.»
swissinfo und Willi Wottreng, sda
In der Schweiz leben über 30’000 Jenische.
Zwischen 1926 und 1972 wurden Jenische Opfer des Hilfswerks «Kinder der Landstrasse».
Über 600 Kinder wurden ihren Familien entrissen.
Viele jenische, aber auch andere Frauen, wurden zwangssterilisiert.
Die wenigsten wissen, dass die Jenischen ihre eigene Sprache sprechen.
Venanz Nobel versucht, das Jenische zu bewahren.
Jenisch ist eine lebendige Sprache, die nicht in einem Lexikon festgehalten ist.
Jenische kommunizieren untereinander auch in Chats im Internet.
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