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Pässe, Profiteure, Polizei: Die Geschichte eines Schweizer Kriegsgeheimnisses

Hunderte von Juden und Jüdinnen aus Mittel- und Osteuropa entkamen der Vernichtung durch die Nazis dank lateinamerikanischer Pässe, die aus diplomatischen Kreisen der Schweiz stammten. Das Jüdische Museum der Schweiz in Basel widmet diesem wenig bekannten Kapitel der Schweizer Geschichte eine Ausstellung.

«Pässe, Profiteure, Polizei. Ein Schweizer KriegsgeheimnisExterner Link» ist eine Ausstellung vom Jüdischen Museum der Schweiz in Basel in Zusammenarbeit mit dem Archiv für Zeitgeschichte der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH). Die Texte sind auf Deutsch, Französisch und Englisch. Ein Katalog wird in Kürze veröffentlicht.

Nach Adolf Hitlers Machtergreifung in Deutschland suchten Hunderttausende von Juden und Jüdinnen Zuflucht im Ausland, insbesondere in den Vereinigten Staaten, Palästina und Lateinamerika. Als ab 1938 viele Länder ihre Grenzen für jüdische Flüchtlinge schlossen, wurde der Besitz von Pässen und Visa bestimmter Länder zu einem überlebenswichtigen Faktor.

«Als die Judenverfolgung im Jahre 1938 in Deutschland kam, wurde mein Bureau förmlich bestürmt von Juden, die anhand eines Visums für die Republik Paraguay hofften, Angehörige retten zu können», sagte Rudolf Hügli, ein Berner Notar und Honorarkonsul von Paraguay in der Schweiz, einige Jahre später der Schweizer Polizei.

Ein Helfernetzwerk

Angesichts dieser Situation wurde in verschiedenen Schweizer Städten ein Helfernetzwerk gebildet, um Pässe aus lateinamerikanischen Ländern für Juden und Jüdinnen in den von den Nazis besetzten Gebieten zu beschaffen. Die Aktion, die mit der Unterstützung der Botschaft der polnischen Exilregierung in der Schweiz rechnen konnte, war zunächst eher spontan und sporadisch.

Erst um 1942, als Abraham Silberschein, ein ehemaliges Mitglied des polnischen Parlaments und Delegierter des Jüdischen Weltkongresses in Genf, die Koordination übernahm, nahm die Hilfsaktion grössere Dimensionen an.

Dank Unterstützung privater Spender und der Zusammenarbeit jüdischer Wohltätigkeitsorganisationen konnte das Netzwerk mehrere Millionen Franken sammeln, um die Konsuln zu bezahlen, welche die falschen Staatsangehörigkeitsausweise ausstellten.

Zwischen Hilfe und Profit

Pässe wurden, abgesehen von einigen Ausnahmen, nicht kostenlos abgegeben. Hügli beispielsweise, der Tausende von Reisepässen ausstellte, verlangte 500 Franken pro Pass. Andere Diplomaten forderten zwischen 1000 und 2000 Franken; ein Zürcher Anwalt erhob für seine Dienste gar Gebühren in der Höhe von bis zu 600’000 Franken.

Juden und Jüdinnen mit einem solchen Pass genossen in den von den Nazis besetzten Gebieten einen gewissen Schutz, da sie als Bürger eines neutralen lateinamerikanischen Landes angesehen wurden. Viele von ihnen wurden von den Deutschen in Internierungslager gebracht, vor allem nach Vittel (Frankreich) und Bergen-Belsen (Deutschland), und entkamen damit zumindest vorübergehend der Vernichtung.

Die meisten Häftlinge von Vittel wurden jedoch später in Vernichtungslager deportiert, nachdem Paraguay seine illegal ausgestellten Pässe annulliert hatte (siehe Artikel des Historikers Peter KamberExterner Link).

Eine vergessene Geschichte

1943 wurde das Helfernetzwerk in der Schweiz von der Polizei aufgedeckt. Die Schweizer Behörden beschlagnahmten Dokumente und Fotos und nahmen die aktivsten Mitglieder des Netzwerks fest. Die Schweiz vermied jedoch Gerichtsverfahren, vielleicht aus Angst vor einer Reaktion der Deutschen.

Diese Geschichte ist zwar in den Archiven gut dokumentiert, wurde aber bis jetzt noch nicht historisch aufgearbeitet, sagt Naomi LubrichExterner Link, Leiterin des Jüdischen Museums der SchweizExterner Link in Basel. «Wir hoffen, dass die Ausstellung, in der viele Dokumente erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt werden, die Historiker und Historikerinnen dazu anregen wird, sich intensiver mit dieser Geschichte zu befassen.»

Polnische Botschaft in Bern wollte Juden retten

Eine neue Studie des Pilecki InstitutesExterner Link in Warschau zeigt, dass polnische Diplomaten in Bern während des zweiten Weltkriegs versuchten, 8000 bis 10’000 Juden und Jüdinnen vor dem Holocaust zu retten, indem sie ihnen gefälschte lateinamerikanische Pässe beschafften. Die Studie wird im Februar in einer englischen Version publiziert.

Die Forscher und Forscherinnen fanden in zweijähriger Arbeit heraus, dass zwischen 24 und 45% der Juden und Jüdinnen mit gefälschten Pässen – aus Ländern wie Paraguay, Honduras, Haiti und Peru – den Holocaust überlebten. Am meisten Juden und Jüdinnen konnten auf diese Weise aus Polen, den Niederlanden und Deutschland gerettet werden.

Das Forschungsinstitut hat eine Liste der geretteten PersonenExterner Link («Ładoś List», benannt nach dem damaligen polnischen Botschafter in der Schweiz) publiziert. Darauf erscheinen auch Namen berühmter Widerstandskämpfer des Warschauer Ghetto-Aufstands von 1943 sowie Anne Franks beste Freundin «Hanneli» (Hannah Goslar).

Die polnische Exilregierung in London unterstützte die Rettungsaktion. Sie setzte lateinamerikanische Länder unter Druck, die gefälschten Pässe aus humanitären Gründen anzuerkennen.

(Übertragung aus dem Italienischen: Sibilla Bondolfi)

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