Eine Initiative zur Wiedergutmachung für ganz Europa
Am Wochenende versammelten sich in Bern Menschen aus 20 Ländern für die "Justice Initiative". Diese will die Anliegen der Schweizer "Wiedergutmachungsinitiative" europaweit umsetzen – und Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen besser schützen.
Der Initiator Guido Fluri begrüsst mit dem Ausspruch «Freude herrscht». Die Themen, wegen denen Anwält:innen, Überlebende und Forscher:innen von Finnland bis Rumänien, von Portugal bis Griechenland nach Bern reisten, sind zwar durchwegs bedrückend.
Doch das gemeinsame Ziel begründet die Freude: Das Treffen ist Auftakt für die europaweite «Justice InitiativeExterner Link«, die die Errungenschaften der Schweizer «Wiedergutmachungsinitiative» auf den ganzen Kontinent ausweiten will. Es geht darum, das von Staaten, Kirchen oder Einzelnen verursachte Kinderleid gesellschaftlich anzuerkennen, wissenschaftlich aufzuarbeiten – und auch um Reparationszahlungen für die Überlebenden zu fordern.
Der Unternehmer Fluri führt aus, dass ihn Politiker:innen vor seiner Lancierung der Schweizer «Wiedergutmachungsinitiative» – die für Verdingkinder und Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen eine Wiedergutmachung forderte – warnten: Man solle «die Vergangenheit nicht aus der Perspektive von heute betrachten», und selbst «manche Opfer» würden resigniert meinen, das Erlebte sei «den Menschen von heute» egal.
Doch schliesslich fand das Anliegen Unterstützung in allen Parteien; auch die katholische Kirche war an Bord. Am Ende seiner Ansprache sagt Fluri, dieses Wochenende soll der neuen «Justice Initiative» als «Ausgangspunkt zu einer echten europäischen Antwort auf die früheren Missbrauchsfälle» in Erinnerung bleiben.
Breite Unterstützung
Die Situationen und Verbrechen, die vorgetragen werden, sind so unterschiedlich wie die Konferenzteilnehmenden. Manches war staatlich gewollt; anderes kirchlich gedeckt. Oft ist die Diskriminierung der Kinder Unverheirateter ein Faktor, manchmal auch Rassismus – etwa bei den «Enfants de la Creuse», die von der Insel La Réunion im französischen Festland staatlich fremdplatziert wurden – oder bei Medikamentenversuchen in Irland.
«Wir sind nicht allein, wir sind viele», sagt Matthias Katsch in seiner Rede. «So wie wir von der erfolgreichen Erfahrung in der Schweiz lernen können, hat das, was wir nun in Europa tun, eine globale Wirkung.» Katsch ist Mitglied der unabhängigen Aufarbeitungskommission in Deutschland. Es brauche den Mut der Überlebenden, aber auch den Willen der Gesellschaft zu verstehen. Er hofft, dass künftig auch Repräsentanten der katholischen Kirche – wo er Opfer wurde – die «Justice Initiative» unterstützen.
Der europäische Generalsekretär der Reformierten Kirchen ist hingegen bereits dabei. «Wir bekämpfen nicht die katholische Kirche, sondern die Verbrechen, die von Mitgliedern der katholischen Kirche begangen wurden», betont später die Anwältin Leticia de la Hoz aus Spanien vor der Konferenz.
«Ich werde ein ziemlich schlechtes Bild von Griechenland zeichnen», setzt Tinia Apergi, Psychologin bei der NGO Eliza, an. In Griechenland gebe es kein Pflegekindsystem, ebenso fehle ein verpflichtendes Sensibilisierungstraining für Menschen, die mit Kindern arbeiten. In grossen Teilen der Bevölkerung sei Kindesmissbrauch ein Tabuthema. Die griechisch-orthodoxe Kirche gelte als «unberührbar».
«Die Trennung von Kirche und Staat ist in Griechenland aus kulturellen Gründen schwach ausgeprägt», erklärt Apergi gegenüber swissinfo.ch. Und: «Die historische Aufarbeitung über die Situation in griechischen Waisenhäusern ist inexistent.» Apergis Hoffnung für die «Justice Initiative» ist, dass dank dem gesamteuropäischen Ansatz Fälle von Unrecht gegenüber Kindern nicht mehr isoliert in den jeweiligen Ländern betrachtet werden können.
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«Dass Kindesmissbrauch quer durch alle Milieus, unabhängig von sozialem Status und Bildung, geschieht, ist bekannt.» Ein wirksames Mittel, damit «Absichtserklärungen» auf europäischer Ebene aber in den jeweiligen Ländern auch umgesetzt würden, könne die Forderung von Reparationszahlungen sein.
Verbrechen in Erinnerung holen
Gabriela Lupea von der rumänischen NGO Fundatia Civitas sagt swissinfo.ch, ihr sei erst seit kurzem bewusst, dass solche Verbrechen nicht nur wirtschaftlich schwache, sondern auch reiche Länder wie Belgien und die Schweiz betreffen. «In der rumänischen Öffentlichkeit kommt diese internationale Ebene nicht vor.» Und die kosovarische Vjolica Krasniqi ergänzt: «Wir müssen diese Verbrechen in die kollektive Erinnerung heben – das universelle an ihnen ebenso wie die Situation in den einzelnen Ländern.» Keine Gesellschaft könne ihre Vergangenheit einfach begraben.
Am späteren Samstagnachmittag verschafft Professorin Helen Keller, bis Ende 2020 Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, einen Überblick über die Optionen, die der «Justice Initiative» im Europarat und der EU offenstehen. «Wir haben einen Text für eine Motion im Europarat entworfen», sagt Keller, während der Entwurfstext für ein Memorandum of Understanding verteilt wird. Eine solche Motion ist nicht rechtsbindend, könne aber ein erster Schritt sein.
Am Sonntagmorgen stimmt die Konferenz dem Text zu: Die Forderungen sind unabhängige wissenschaftliche Aufarbeitung, staatliche Entschuldigungen, eine Stärkung des Kinderschutzes und finanzielle oder andere Formen der Wiedergutmachung für Überlebende. Die Motion in diesem Sinn beim Europarat einreichen wird der Sozialdemokrat Pierre-Alain Fridez, der Präsident der Schweizer Delegation. Er rechnet mit einer «überwältigenden Mehrheit».
Verdingkinder wurden in der Schweiz bin in die 1960er-Jahren fremdplatziert. Ihr Leid wurde lange nicht anerkannt – erst die Wiedergutmachungsinitiative brachte eine ernsthafte gesellschaftliche Diskussion in Gang:
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