Kinderdorf Pestalozzi feiert 60 Jahre
Vor 60 Jahren hat der Philosoph Walter Robert Corti mit einem Aufruf in der Zeitschrift "Du" den Anstoss zum Bau des Kinderdorfs Pestalozzi gegeben.
Daran erinnerten am Samstag ein kleiner Festakt und ein «Tag der offenen Tür» in Trogen in Appenzell Ausserrhoden.
Vor 60 Jahren rief Walter Robert Corti zum Bau eines internationalen Friedensdorfes für Kinder in der kriegsverschonten Schweiz auf. Damit wurde er zum geistigen Vater der weltweiten Kinderdorf-Bewegung. Viele weitere Kinderdörfer sind aufgrund seiner Idee in der ganzen Welt entstanden.
Cortis Aufruf zum Bau eines Dorfs für Kriegswaisen war 1944 in der Öffentlichkeit auf grosses Echo gestossen. 1946 begannen die Bauarbeiten in Trogen, an denen sich bis zu 3000 freiwillige Helfer aus dem In- und Ausland beteiligten.
Zuerst Kriegsgebiete Europas, dann Tibet
Die Bevölkerung liess sich von Cortis Begeisterung anstecken und half tatkräftig mit, das Kinderdorf in Trogen zu erbauen. Dank Spenden von Einzelpersonen, Schulklassen, Gemeinden, Firmen und anderen Institutionen wurde Cortis Idee innert zwei Jahren Wirklichkeit. Schon im April 1946 wurde der Grundstein zum Kinderdorf gelegt, und wenige Monate später zogen erste Kinder aus Europa in die Kinderhäuser ein.
1960 wurden mit 20 Flüchtlingen aus Tibet erstmals Kinder aus einem aussereuropäischen Kulturkreis in Trogen aufgenommen. Die Besuche des Dalai Lama sind vielen noch in Erinnerung. 1982 wurde die Stiftung auch im Ausland aktiv.
Kinderdorf als Schonraum
Waren es in den Anfängen Kriegswaisen aus dem Zweiten Weltkrieg, so sind es heute rund 100’000 Kinder und Jugendliche, die weltweit von den Programmen der Stiftung Kinderdorf Pestalozzi profitieren.
Im Ausland ermöglicht die Stiftung benachteiligten Kindern und Jugendlichen den Zugang zu Bildung. Sie schafft dort Bildungsmöglichkeiten, wo Schulen fehlen, Schulwege zu lang sind oder Kinder arbeiten müssen, um zum Lebensunterhalt ihrer Familien beizutragen.
Das Kinderdorf in Trogen steht noch immer – wie vor 60 Jahren – ganz im Zeichen des friedlichen Zusammenlebens verschiedener Kulturen. Kinder und Jugendliche mit vorwiegend fremdländischen Wurzeln, die in der Schweiz Probleme mit ihrer Identität und mit der Integration haben, finden im Kinderdorf den Schonraum, in familienähnlichen Strukturen langsam die Schweizer Kultur leben zu lernen.
Schwerpunkt Bildung und interkulturelles Zusammenleben
Seit 1993 besuchen die Kinder und Jugendlichen nicht mehr die kinderdorf-eigene Schule, sondern wenn möglich die Schulen der umliegenden Gemeinden. In den letzten Jahren reorganisierte sich die Stiftung und gab die Standorte Zürich und Freiburg auf. Als neue Schwerpunkte wurden Bildung und interkulturelles Zusammenleben definiert
Im vergangenen Jahr nahmen 5600 Kinder und Jugendliche aus Ost- und Südosteuropa sowie der Schweiz an Austauschprojekten des Kinderdorfs teil. Im Ausland war die Stiftung an Projekten in Zentralamerika (Honduras, El Salvador, Guatemala), in Äthiopien, Indien, Kambodscha, Rumänien und Serbien beteiligt.
Umfassende Sanierung
Die Sanierung des idyllischen Dörfchens, das aber betreffend Wohnkomfort den heutigen Wohnansprüchen nicht mehr genügt, dürfte zwischen 8 und 16 Mio. Franken kosten. Die Stiftung Kinderdorf hofft auf Spenden.
Im letzten Jahrzehnten hatten auch abrupte Wechsel in der Dorfleitung und Strategiediskussionen mehr Schlagzeilen abgegeben, als der Stiftung lieb war.
Heute hat man das Prinzip der ursprünglichen «Nationenhäuser» zugunsten vom Zusammenleben der Kinder in interkulturellen Wohngruppen aufgegeben. Nur das Tibeter-Haus von 1960 besteht noch.
UNO-Kinderrechts-Konvention
Allen Projekten der Stiftung gemeinsam ist der Gedanke, dass Kinder Rechte haben. Das Recht auf Freizeit, Spiel und die Beteiligung am kulturellen und künstlerischen Leben ist eines davon. Das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard, bestmögliche Gesundheit und den Zugang zu medizinischen Gesundheitszentren, der Schutz vor Misshandlung und sexueller Ausbeutung sind weitere.
Und das Recht auf Bildung. Die Stiftung Kinderdorf Pestalozzi unterstützt Kinder und Jugendliche, unabhängig von Religion, Herkommen und Geschlecht, ihre Rechte wahrnehmen und durchsetzen zu können. Deshalb setzt sie sich für die Umsetzung der UNO-Kinderrechtskonvention ein.
Laut dem neuen Konzept soll das Kinderdorf zu einem Kompetenzzentrum für die Rechte von Kindern werden. Seit 2001 ist Markus Mader Vorsitzender der Geschäftsleitung, und seit 2002 präsidiert die Bündner Nationalrätin Brigitta Gadient die Stiftung.
Projektwochen für Schweizer Schulklassen
Dauerhaft wohnen im Kinderdort zur Zeit noch 30 Kinder; sie haben grossenteils ausländische Wurzeln und kommen aus schwierigen Familienverhältnissen. In Zukunft soll die Zahl der Kinder wieder auf 50 anwachsen.
Das Kinderdorf ist heute vor allem zu einem Treffpunkt verschiedener Kulturen geworden. Es hat Platz für durchschnittlich 90 Kinder, die jeweils für einige Wochen kommen. Auch rund 30 Schweizer Schulklassen werden jährlich für ihre Projektwochen nach Trogen eingeladen.
Zu den Partnern der Stiftung Kinderdorf resp. Geldgebern gehören auch die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (DEZA) und die Glückskette.
swissinfo und Agenturen
Kinderdorf Pestalozzi:
Aufruf zum Bau 1944
Beginn der Bauarbeiten 1946
Erstmals tibetanische Kinder 1960
Aktivitäten im Ausland ab 1982
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