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Klimaschutz beginnt auch mit Zufalls-Bürger:innen

Diskutieren am Tisch
Eine der ersten in der Schweiz: Die Klimabürgerversammlung in Uster im Kanton Zürich war eine Initiative der lokalen Behörden. Es gab sie auch schon in Genf und Sitten. Alexander Geisler

Während Politiker:innen am COP26-Gipfel in Glasgow verbindliche Richtlinien für den Klimaschutz aushandeln, versuchen Bürger:innen in Schweizer Städten, den Worten Taten folgen zu lassen.

Die Einladung zur Klimabürger:innen-Versammlung kam für Mirjam Javet genau zum richtigen Zeitpunkt. Die Klavierlehrerin aus dem Kanton Zürich wollte sich für mehr Nachhaltigkeit engagieren. Das Thema sei während der Covid-19-Pandemie für sie sehr präsent geworden, sagt Javet.

Mirjam Javet
Mirjam Javet. swissinfo.ch

Sie wollte etwas bewirken, jedoch nicht in die Politik einsteigen. «Dann kam im Frühling dieser Brief ins Haus geflattert»: Sie war eine von 2000 Personen, die zufällig ausgewählt worden waren.

Die Klimabürger:innen-Versammlung war eine Initiative der Gemeinde Uster im Kanton Zürich und ist eine der ersten ihrer Art in der Schweiz. An zwei Wochenenden erarbeiteten die Teilnehmenden einen Bericht, der praktische Klimaschutz-Massnahmen aufzeigt, die lokal umgesetzt werden können.

Die Versammlung ist Teil eines weltweiten Trends, der darauf abzielt, die Bevölkerung für die Lösung von grossen gesellschaftlichen Problemen einzubeziehen. In der Schweiz gibts Bürger:innenräte nach diesem Muster bereits in Genf und in Sitten.

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Einige Bürgerforen werden auch auf internationaler Ebene organisiert und bringen Menschen aus der ganzen Welt zusammen. In diesem Jahr wird erstmals eine globale Bürgerversammlung abgehalten. Sie findet seit dem 7. Oktober parallel zur COP26-Konferenz statt und funktioniert nach dem gleichen Prinzip wie jene von Uster (vgl. Box).

Nicht nur auf lokaler und nationaler Ebene versuchen Bürgerversammlungen derzeit, die weltweiten Klimaschutzbemühungen mit praktischen Lösungen zu verbinden. Erstmals hat sich im Rahmen der COP26-Klimakonferenz in Glasgow eine Global Citizens› Assembly konstituiert.

Die Versammlung, die am 7. Oktober ihre Arbeit aufgenommen hat, soll die globale Demographie widerspiegeln: 60 der 100 Personen kommen aus Asien, 17 aus Afrika, die Hälfte sind Frauen und 70 sind Menschen, die 10 Dollar pro Tag oder weniger verdienen. Um die Teilnahme zu ermöglichen, erhalten alle Mitglieder finanzielle und technische Unterstützung sowie eine Übersetzungshilfe.

Das Auswahlverfahren umfasste eine Lotterie, bei der 100 Punkte auf einer Landkarte nach dem Zufallsprinzip ausgewählt wurden, wobei Landmasse und Bevölkerungsdichte berücksichtigt worden waren. Die Weltversammlung wird von einer weltweiten Koalition aus über 100 Organisationen getragen.

Am 1. November stellte die Versammlung ihre wichtigsten ErgebnisseExterner Link vor. Die Initiative ist eng mit dem COP26-Prozess verbunden: Die Resultate werden den Staats- und Regierungschefs vorgelegt. Die Global Assembly wird von der schottischen Regierung und der Europäischen Klimastiftung finanziert und von Grossbritannien und den Vereinten Nationen unterstützt.

Im Herbst stand dort eine zweite Runde an. Mirjam Javet wurde erneut aufgeboten. Sie traf sich mit 19 anderen zufällig ausgewählten Bürger:innen an zwei Wochenenden, um über den Klimawandel zu sprechen und darüber, was die Gemeinde tun kann, um das Problem einzudämmen.

Nicht nur Berufstätige und Fachleute, sondern auch zwei Schüler:innen und ein Rentner nahmen teil. Nach Vorträgen von Experten und Vertreterinnen der Wirtschaft sowie der Klimastreik-Bewegung beschäftigten sich die Teilnehmenden unter Anleitung von zwei Moderatoren mit konkreten Bereichen wie Mobilität, Stadtplanung sowie Abfall und Verbrauch.

Die Verteilung der Aufgaben erfolgte auf natürliche Weise. «Einige haben gerne geschrieben, andere lieber geredet», berichtet Javet.

Über die Vorschläge in dem 15-seitigen Schlussbericht, der aus den beiden Sitzungen hervorging, wurde jeweils abgestimmt. Sie wurden von der Versammlung entweder als «einstimmig», «mit grosser Mehrheit» oder «mit einfacher Mehrheit» unterstützt gekennzeichnet.

So wurden beispielsweise nachhaltiges Bauen – «möglichst mit Recyclingbeton und regionalen Rohstoffen» – oder die Begrünung von Fassaden und Dächern befürwortet. Die Einführung von Tempo 30 auf allen Strassen im Stadtgebiet stiess dagegen mit sieben Gegenstimmen und 13 Ja-Stimmen auf mehr Skepsis.

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Die Ergebnisse der Bürgerbefragung sind nicht bindend, aber die Gemeinde Uster möchte so viel wie möglich umzusetzen. Anfang November werden die Initiativ-Mitglieder ihre Ergebnisse im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung vorstellen. Stadträtin Karin Fehr wird danach erläutern, was die Stadt mit den Ergebnissen zu tun gedenkt.

Darüber hinaus steht es den Einwohnerinnen und Einwohnern von Uster frei, die Massnahmen auch über andere Kanäle wie Petitionen und Initiativen in den politischen Prozess einzubringen.

Gruppe am Tisch
Die Ergebnisse der Bürger:innen-Versammlung sind nicht bindend, aber die Zürcher Stadt Uster ist entschlossen, sie umzusetzen. Alexander Geisler

Mitreden und zuhören

Für Javet war es eine sehr bereichernde Erfahrung. «Ich konnte meine Meinung vertreten und habe gelernt, wie wichtig es ist, zuzuhören.» Besonders beeindruckt war sie vom Austausch mit zwei jungen Aktivist:innen der Klimastreik-Bewegung, die in der Schweiz bereits für einige Furore gesorgt hat.

«Das Wort Streik kommt nicht gut an», räumt Javet ein. Aber das Gespräch sei positiv verlaufen, und die Klimastreikenden hätten jede Frage ruhig beantwortet. Der Austausch mit allen Teilnehmenden sei lebhaft gewesen. «Von Resignation war nichts zu spüren, und die älteren Leute waren nicht weniger engagiert als die jüngeren», sagt sie.

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Der Politologe Andri Heimann begleitete das Projekt in Uster. Für Heimann, der am Zentrum für Demokratie in Aarau (ZDA) forscht, sind solche Bürgerversammlungen ein wirksames Instrument, auch in einer modernen direkten Demokratie wie der Schweiz, wo sich die Bürger:innen durch Initiativen und Referenden einbringen können. «Sie sind eine weitere Form der politischen Beteiligung», sagt er.

Der Dialog zwischen Vertretern verschiedener Bevölkerungsgruppen, die durch das Los bestimmt werden, sei eine willkommene Ergänzung zum bestehenden politischen Instrumentarium. «Eine Bürgerversammlung ermöglicht es, über Ja-Nein-Entscheidungen hinauszugehen und die Umsetzung polarisierender Themen auszuhandeln», sagt er.

Heimann ist überzeugt, dass diese Form der Bürgerforen besonders geeignet ist, um die Klimadebatte zu führen: «Die Themen sind komplex und es gibt keine einfachen Lösungen.» Dank eines ausgeklügelten Auslosungsverfahrens war die Vielfalt in der Klima-Versammlung von Uster gewährleistet: Alle Geschlechter und Altersgruppen und Menschen mit unterschiedlichem Bildungsstand und politischer Ausrichtung wurden ausgelost.

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Von den 2000 Personen, die in der ersten Runde ausgewählt und eingeladen wurden, meldeten sich 129 freiwillig zur Teilnahme, was einer Quote von 6,5% entspricht. Es ist eine niedrige Zahl im Vergleich zu den 10 bis 11% Teilnahmequote anderer vergleichbarer Projekte in der Schweiz.

Jedoch habe Uster im internationalen Vergleich gut abgeschnitten, sagt Heimann. Bei den meisten Bürgerversammlungen weltweit schwanke die Teilnahmequote zwischen 1% und 4%.

Dem aktuellen Bürggerat in Uster ging eine ähnliche Veranstaltung in einer anderen Kleinstadt im Kanton Zürich voraus: Thalwil. Vor zwei Jahren initiierte dort die Grünliberale Partei (GLP) mit Unterstützung anderer Parteien den «Thalwiler Klimagipfel». Das Treffen mit insgesamt 60 Teilnehmer:innen, darunter rund 50 Personen aus der Gemeinde, brachte am Ende einen gut 20-seitigen Text mit zahlreichen Vorschlägen hervor. So wünschten sie sich mehr Veloverkehr und eine Kreislaufwirtschaft.

Es geht um Impulse und Legitimation

Ein Klimadialog mit den Bürger:innen bringe zwar keine bahnbrechenden neuen Ideen hervor, aber die Behörden könnten lernen, welche Massnahmen von der Bevölkerung mitgetragen werden, erklärt Jessica Salminen, Präsidentin der GLP in Thalwil und eine der Initiant:innen des Klimagipfels. «Man darf keine riesigen Direktauswirkungen auf den CO2-Ausstoss erwarten, es geht eher um die Sensibilisierung.»

Jürg Stünzi and Jessica Salminen 
Zufalls-Bürger:innen Jürg Stünzi und Jessica Salminen. swissinfo.ch

Jürg Stünzi, Präsident der Thalwiler Grünen, pflichtet bei: «Die Impulse helfen bei der späteren politischen Umsetzung. Für mich geht es darum, die Bevölkerung einzubeziehen und die umgesetzten Massnahmen zu legitimieren.»

Denn als pensionierter Naturwissenschaftler, der sich seit langem mit dem Thema Nachhaltigkeit beschäftigt, weiss Stünzi, dass es für Laien oft schwierig ist, die Machbarkeit von Massnahmen zu beurteilen. Vor zwei Jahren sei beispielsweise vorgeschlagen worden, die Filterung des Regenwassers zu verbessern.

«Das ist nur bedingt machbar, da unsere Böden eine zu geringe Aufnahmekapazität aufweisen». Eine weitere Hürde sei, wenn Massnahmen nicht in den Zuständigkeitsbereich der Gemeinde fallen, ergänzt Salminen. «Zum Beispiel beim Thema Strassen oder Mobilität. In vielen Bereichen haben die kantonalen Behörden und der Bund das Sagen.»

Trotzdem waren die Initiativen in Uster und Thalwil ein voller Erfolg und dienen als Vorbilder für andere Städte: Neben den 16’000 Thalwiler:innen werden im nächsten Jahr auch die 115’000 Einwohner:innen von Winterthur, der sechstgrössten Stadt der Schweiz, einen solchen Klimagipfel veranstalten.

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(Übertragung aus dem Englischen: Christoph Kummer)

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