Biodiversität, die Schmuckschatulle des Lebens
Jeden Tag verschwinden auf der Welt rund 100 Tier- und Pflanzenarten. Das ist eine Bedrohung der biologischen Vielfalt, die auch vor der Schweiz nicht Halt macht, wie am 22. Mai., am internationalen Tag der Biodiversität, betont worden ist.
Eine Wiese ohne Blumen, ein See ohne Fische: Szenarien, die eher auf Science Fiction als auf das Postkarten-Idyll der Schweiz hinweisen.
Dennoch besteht diese Gefahr, und sie ist viel näher, als man vielleicht denkt. «Die biologische Vielfalt des Planeten befindet sich in grosser Gefahr», sagt Nicolas Wüthrich, Sprecher der Westschweizer Sektion von Pro Natura. «Einige Experten sprechen gar von einer Halbierung der Arten bis zum Jahr 2050.
Mit der Industrialisierung, der Urbanisierung und der zunehmenden Ausbeutung der Ressourcen geht auch eine beschleunigte Erosion der Natur und der Landschaft einher. Diese zerstört das natürliche Gleichgewicht, beschädigt die verschiedenen Ökosysteme. Die durch den Menschen hervorgerufenen Änderungen erfolgen schnell und brutal. Sie sind so plötzlich, dass Tiere und Pflanzen nicht mehr in der Lage sind, sich anzupassen.
Invasion der Exoten
Die Einführung und Einwanderung von exotischen Arten hat das Problem noch verschärft. Denn diese verbreiten sich in der Regel auf Kosten der einheimischen Arten in deren natürlichem Lebensraum. Genau auf solche invasiven Arten aus anderen Ländern oder Kontinenten will in diesem Jahr der Internationale Tag der Biodiversität aufmerksam machen.
«Wegen ihrer Anpassungsfähigkeit sind exotische Organismen in der Lage, einheimische Arten ohne allzu grosse Schwierigkeiten zu verdrängen. Sie sind auch der Grund für in unseren Breitengraden bislang unbekannte Krankheiten und können zu Schäden in der Landwirtschaft führen», erklärt Wüthrich.
So stammt zum Beispiel die Regenbogenforelle aus Amerika. Ihre Anwesenheit in unseren Flüssen gefährdet ernsthaft das Überleben der lokalen Forellenarten.
Gemäss Schätzungen haben in den letzten vier Jahrhunderten die eingeführten oder eingewanderten Exoten zum Verschwinden von 40% der Tiere beigetragen.
Die Veränderung der Lebensräume durch den Menschen gilt laut der Internationalen Union zur Erhaltung der Natur (IUCN) als zweitschlimmster Faktor für die Bedrohung der biologischen Vielfalt.
Mehr als 200 Arten nur in der Schweiz
In den letzten 150 Jahren sind in der Schweiz mehr als 220 Tier- und Pflanzenarten ausgestorben oder verschollen. Heute befindet sich fast die Hälfte der lokalen Fauna auf der roten Liste. Mehr als ein Drittel der Farn- und Blütenpflanzen sowie der Moose und Flechten gelten als gefährdet.
«Der Zustand der biologischen Vielfalt in der Schweiz unterscheidet sich von Region zu Region», sagt Urs Hintermann vom Bundesamt für Umwelt. Er leitet das Biodiversitäts-Monitoring-Projekt, das 2001 ins Leben gerufen wurde. «Die Vielfalt der Natur ist in Berggebieten teilweise sehr reichhaltig, wie in den Wäldern und gewissen bewohnten Zonen. Aber auf den Feldern und Weiden findet eine zunehmende Standardisierung der Vegetation statt.»
Auf dem Weg zum Massen-Aussterben?
Nicolas Wüthrichs Tonfall ist allerdings um einiges eindringlicher: «Das Artenschutzproblem ist in der Schweiz besonders gravierend, obwohl die Öffentlichkeit und die politischen Behörden das nicht so sehen. «Das Konzept zur Erhaltung der Biodiversität ist nicht immer ersichtlich und die unmittelbaren Folgen einer Verarmung sind für das Auge oft unsichtbar.»
In der Schweiz bestehen sehr wohl rechtliche Grundlagen für die Erhaltung und Bewirtschaftung der biologischen Vielfalt. Ihre Anwendung ist indessen oft schwierig. «Es fehlt an Mitteln und Personal. Lange Verzögerungen sind die Folgen», sagt Wüthrich. «Wir müssen mehr tun, wenn wir den Reichtum unseres Landes nicht schädigen wollen.»
Das Verschwinden von Tieren und Pflanzen ist an sich ein natürliches Phänomen. Auf der Erde hat bereits fünf Mal ein Massen-Aussterben stattgefunden, das letzte Mal vor 65 Millionen Jahren. Aber heute finden die Veränderungen in Rekordzeit statt, und für die meisten ist der Mensch verantwortlich.
Wüthrich spricht von einer 10’000 Mal höheren Aussterbensrate als in der Vergangenheit. Die Folgen könnten dramatisch sein: «Wenn die Hälfte der Arten bis zum Jahr 2050 verschwände, könnte auch der Mensch dazu gehören.»
Eine politische Notwendigkeit
Dieses Risiko will die internationale Gemeinschaft nicht eingehen – so sagt sie es wenigstens. Auf dem Weltklimagipfel für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg 2002 haben die Unterzeichner des UNO-Übereinkommens über die biologische Vielfalt zugesagt, die Verluste bis zum Jahr 2010 weltweit zum Stillstand zu bringen.
«Das Ziel ist für die meisten Länder nicht erreichbar», sagt Elisabeth Mareth, Sprecherin des Bundesamtes für Umwelt. Die bisherigen Massnahmen, wie etwa der Schutz von Lebensräumen, hat nicht die erwünschten Früchte getragen. Immer noch figurieren viele Arten auf der Roten Liste der bedrängten Gattungen. Deshalb ist unbedingt nötig, eine neue Strategie zu entwickeln.»
Ein vom Parlament im letzten Jahr lancierter Appell fordert das Bundesamt für Umwelt auf, auf der Grundlage der Ergebnisse des Monitorings der Biodiversität in der Schweiz, bis 2011 Vorschläge zu präsentieren.
Stefania Summermatter, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Italienischen: Etienne Strebel)
Auf der Erde sind derzeit 1,7 Millionen Arten katalogisiert, aber man geht davon aus, dass es zwischen 12 und 30 Millionen sind.
16’000 Arten gelten als vom Aussterben bedroht.
In der Schweiz sind etwa 40’000 Arten von Pflanzen, Tieren und Pilzen beheimatet.
Von diesen sind 800 exotisch und 107 invasiv.
In den letzten 150 Jahren sind 224 Arten ausgestorben oder verschwunden.
2010 sind aus Anlass des Internationalen Jahres der Biodiversität in der Schweiz zahlreiche Veranstaltungen geplant, um die Bevölkerung für das Thema zu sensibilisieren.
Die Effekte der Klimaerwärmung auf die Schweizer Biodiversität werden immer mehr sichtbar, besonders in den Alpen, wo zahlreiche Arten ihren Lebensraum immer weiter in die Höhe verlegen.
Gebirgspflanzen wachsen heute im Durchschnitt 13 Meter weiter oben als noch im Jahr 2001, wie das Biodiversitäts-Monitoring des Bundesamts für Umwelt (Bafu)
zeigt.
Die Heidelbeere beispielsweise wächst heute bereits 40 Meter weiter oben als noch vor acht Jahren.
Die Lebensräume für spezialisierte und seltene Gebirgsarten wie das Alpen-Schneehuhn oder den Gegenblättrigen Steinbrech nehmen dadurch ab. Sie werden von stärkeren Konkurrenten weiter nach oben gedrängt.
Die wärmeren Temperaturen wirken sich aber auch im Mittelland und im Jura bereits aus. Das Bafu erwartet, dass sich dort vermehrt mediterrane und atlantische Arten ansiedeln.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch