Wird die Schweiz gerade von der Ratte erobert?
In Grossstädten wie New York oder Paris überrascht es nicht, wenn Ratten auftauchen. Doch in der sauberen Schweiz waren die Nager bis jetzt kein Thema. Der Mäuse- und Rattenbefall steigt aber an. Die Medien haben das Thema entdeckt. Was ist dran?
Es begann mit der Sichtung von Ratten in einem Zürcher Supermarkt vor einigen Tagen. Ein Video von den für die Schweiz exotischen Schädlingen sorgte in sozialen und traditionellen Medien für Reaktionen.
Ratten im Coop Stadelhofen: Ein Video zeigt, wie die Nager nachts ihr Unwesen treiben. Der Detailhändler hat reagiert. (Abo+)https://t.co/ETaALFzXHkExterner Link
— Tages-Anzeiger (@tagesanzeiger) February 11, 2020Externer Link
Die Sonntagszeitung berichtete darauf: «Ratten erobern die Schweizer Städte.»
Stimmt das? Wir haben nachgefragt. «Nagetiere – das ist immer ein saisonales Thema», relativiert Simon Gross von der Schädlingsbekämpfungs-Firma Desinfecta. Vergangenen Sommer hätten sie tatsächlich einen deutlichen Anstieg von Schadnagern festgestellt. «Dies ändert sich aber je nach Jahreszeit, und die Zahl sinkt dann auch immer wieder.»
Entgegen den zahlreichen Medienberichten über die Vermehrung von Ratten, seien Mäuse nach wie vor das grössere Problem. «Natürlich verzeichnen wir auch da und dort einen Rattenbefall, dies stellen wir aber häufiger im Aussenbereich fest», so Kammerjäger Gross.
Ob Maus oder Ratte ist oft unklar
Das Verhalten von Ratten und Mäusen würde sich stark voneinander unterscheiden, erklärt der Experte. Während eine Ratte regelrecht neophob ist – sie meidet alles Neue – ist eine Maus viel mutiger. Aus diesem Grund nimmt man einen Mäusebefall viel früher wahr.
Ausserdem sei es nicht immer einfach, eine junge Ratte von einer ausgewachsenen Maus zu unterscheiden. «Im Falle des Zürcher Supermarkts gehe ich jedoch davon aus, dass es sich eher um Mäuse handelt», vermutet der Schädlingsexperte Gross aufgrund des gesichteten Handyvideos. Eine ausgewachsene Ratte kann bis zu 30 Zentimeter gross werden.
Desinfecta hat an über hundert Standorten in der Schweiz digitale Fallen gestellt. Diese sind mit einem elektronischen Sender ausgerüstet. Bei jedem gefangenen Tier wird eine Meldung an einen Server gesendet – so kann der Schädlingsbekämpfer in Echtzeit das Erstarken der Ratten- und Mäusepopulationen verfolgen. Das Tier stirbt durch Genickbruch. Auch Kameras hat Desinfecta im Einsatz.
Social Media befeuert «Hysterie»
Alles halb so wild also? Es scheint. Denn dazu komme ein anderes Phänomen, welches das vermehrte Vorkommen von Ratten suggeriere, wie Thomas Iseli von Insekta Schädlingstechnik GmbH erzählt. «Anstatt die Sichtung einer Ratte oder Maus in einem Schaufenster dem betroffenen Unternehmen zu melden, werden solche Bilder immer häufiger auf Social Media gepostet oder den Medien zugespielt.»
«Für eine Ratte reicht ein daumenbreites Loch, eine Maus passt sogar durch eine fünf Millimeter grosse Öffnung.»
Thomas Iseli, Schädlingsbekämpfer
Die Firmen könnten nichts dafür, wenn sie unter einem Schadnager-Befall leiden, sagt Iseli. Man könne dies auch als Schädlingsbekämpfer nicht von einem Tag auf den anderen ändern. «Wir sind keine Zauberkünstler», sagt er. Sie schauen, von wo die Tiere kommen, dichten ab und legen Köder aus. «Für eine Ratte reicht ein daumenbreites Loch, eine Maus passt sogar durch eine fünf Millimeter grosse Öffnung», sagt Iseli.
Die Überwachung von Betrieben in Sachen Schädlingsbefall ist gemäss Iseli in der Schweiz zudem nicht gesetzlich vorgeschrieben. Anders in Deutschland, wo gewisse ISO- oder IFS-Standards verlangt werden: «Dort müssen Nahrungsmittelhändler mit Schädlingsbekämpfungs-Firmen zusammenarbeiten und eine regelmässige Kontrolle sicherstellen.»
Städte dementieren
Anfragen bei den städtischen Behörden schaffen schliesslich Klarheit: Die Schweiz leidet nicht an einem Rattenproblem. Zürich und Bern dementieren. So schreibt die Stadt Bern: «Durch die periodische Bekämpfung konnte die Rattenpopulation in den letzten Jahrzehnten eingedämmt werden.» Die Sensibilisierung der Bevölkerung habe ebenfalls dazu beigetragen, dass die Kanalisation für Ratten an Attraktivität verloren habe.
Auch Marcus Schmidt, Projektleiter bei der städtischen Schädlingsprävention, sagte gegenüber dem «Tages-Anzeiger», dass man keineswegs auf ein Rattenproblem schliessen könne. Die oft gehörte Faustregel, dass in Grosstädten eine Ratte pro Person lebe, habe keine wissenschaftliche Grundlage.
Sowohl Gross wie Iseli, beide Kammerjäger, sind sich aber einig: Höhere Temperaturen begünstigen die Vermehrung von Ratten und Mäusen. Bei kalten Temperaturen würden kranke oder schwache Tiere eher verenden oder es würde auch mal ein Nest einfrieren. Wenn es warm ist, pflanzen sich die Tiere schneller fort. Iseli sagt: «Für unser Business ist die Klimaerwärmung gut.»
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