«Hochwasserschutz hat versagt»
Die Schutzmassnahmen gegen Überschwemmungen sind in der Schweiz in den letzten 200 Jahren in die falsche Richtung gegangen, kritisiert der Gewässerexperte Andreas Knutti vom WWF.
Erhielten die Flüsse ihren Raum wieder zurück, profitierten nicht nur Menschen und Natur, sondern auch die Kassen der öffentlichen Hand.
Die Schweiz ist ein kleinräumiges Land, der Boden ein endliches Gut. Siedlungsbau, Strassen und Bahnen sowie die Landwirtschaft haben dafür gesorgt, dass die zahlreichen Flüsse ihrer natürlichen Läufe beraubt wurden.
Zunehmend stärker werdende Niederschläge zeigen jetzt die negativen Folgen der Unterjochung der Natur. Weil die Flüsse nicht mehr genügend Raum haben, können rasch anschwellende Wassermassen nicht mehr abfliessen. Die Folge sind Hochwasser wie das jüngste von dieser Woche.
Andreas Knutti, Gewässerexperte beim WWF Schweiz (WWF (World Wide Fund for Nature), fordert im Gespräch mit swissinfo die breite Renaturierung der Schweizer Flüsse.
swissinfo: In jedem Sommermonat gab es bisher Überschwemmungen. Haben die Schutzmassnahmen in der Schweiz versagt?
Andreas Knutti: Ja, der rein technische Hochwasserschutz hat versagt. Die Massnahmen und der Wasserbau sind in der Schweiz in den letzten 200 Jahren klar in die falsche Richtung gegangen.
Zum Schaden der Natur – in Schweizer Gewässern sind drei Viertel aller Fischarten bedroht oder schon ausgestorben – und von Siedlungsräumen, die bedroht sind.
swissinfo: Wo liegen die Probleme?
A.K.: Beim politischen Willen, die bestehenden guten Gesetze umzusetzen und den Flüssen den Raum zu geben, den sie benötigen, damit das Wasser abfliessen oder zwischengespeichert werden kann.
Es liegen auch zu wenig finanzielle Mittel bereit: Kantone und Gemeinden, welche die Gewässer revitalisieren und einen naturnahen Hochwasserschutz errichten wollen, können dies nicht umsetzen.
Der WWF fordert deshalb für alle Kantone Revitaliserungs-Fonds, gespeist mit den Wasserzins-Millionen, wie dies der Kanton Bern erfolgreich vormacht.
Dazu kommt der Widerstand der lokalen Landbesitzer. Sie wollen ihr Land – oft ehemaliges Flussland – nicht mehr für Renaturierungen hergeben.
swissinfo: Wo gibt es Beispiele für eine gelungene Wiederherstellung naturnaher Flusslandschaften?
A.K.: Es gibt sie, obwohl es heute vielerorts nicht mehr möglich ist, den Flüssen den ursprünglichen Raum zurückzugeben: Die Thur in den Kantonen Thurgau und Zürich, an der Flaz in Graubünden, am Binnenkanal Rüti im St. Galler Rheintal oder an der Engelberger Aa.
swissinfo: Was gehört zu einer erfolgreichen Renaturierung?
A.K.: Ein renaturierter Fluss hat genügend Raum, Kiesbänke zum Verweilen, am Ufer bieten Büsche und Bäume Lebensraum für Vögel. Vielleicht schwimmt des Nachts sogar ein Biber durch das Gewässer. Zudem rauscht das Wasser ganz anders als in den kanalisierten Flussläufen.
swissinfo: Wären konsequente Revitalisierungen der Flüsse nicht günstiger als die Bewältigung der Folgekosten von Überschwemmungen?
A.K.: Die Bilanz ist klar positiv. Einerseits kommen die Projekte in vergleichbarer Höhe oder gar günstiger zu stehen, andererseits können Millionenschäden vermieden werden.
Von revitalisierten Gewässern profitieren aber nicht nur der Hochwasserschutz und die Natur, sondern auch die Menschen, denen die Flüsse Erholungsraum bieten.
Weiteres Plus: Der naturnah fliessende Fluss kann Grundwasser besser anreichern, wodurch wir viel sicheres Trinkwasser haben. Und langfristig ist der Unterhalt dieser Gewässer billiger.
swissinfo: Hilft die Natur dem bisher mangelnden politischen Willen jetzt auf die Sprünge?
A.K.: Wir hoffen sehr, dass die Politiker nun vorwärts machen und genügend Geld für Revitalisierungsprojekte bereit stellen. Die Erfahrung zeigt aber, dass das Gedächtnis die Eindrücke relativ schnell wieder vergisst und im alten Stil weiter gewurstelt wird.
Deshalb machen wir mit unserer Volksinitiative «Lebendiges Wasser» Dampf, dass mehr Mittel gesprochen werden.
swissinfo, Renat Künzi
Der WWF fordert die Revitalisierung von 10’000 Flusskilometern in der Schweiz.
Jährlich würden aber nur 10 bis 20 Kilometer verbessert.
Die Organisation will die Projekte deshalb mit der Initiative «Lebendige Gewässer» beschleunigen.
Im Bundesamt für Umwelt (BAFU) teilt man die Kritik des WWF am Hochwasserschutz nicht.
Schon anfangs der 1980er-Jahre habe ein Umdenken begonnen, dass technische bauliche Massnahmen allein nicht ausreichten, sondern auch Umweltaspekte zu berücksichtigen seien, sagt Hans Peter Willi, Abteilungschef Gefahrenprävention im BAFU.
Wolle man Sicherheit, brauchten die Fliessgewässer mehr Raum, was in der Regel auch zu ökologischen Verbesserungen führe, so Willi.
Wo ein Hochwasserschutzaspekte besteht, verpflichtet das Wasserbaugesetz von 1991, nicht nur die Sicherheitsdefizite, sondern auch die ökologischen Defizite zu beheben.
Willi räumt aber ein, dass es bei der Finanzierung von Renaturierungen ohne Hochwasserschutzaspekte hapere.
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