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In der Greina taucht Gespenst der Wasserkraft auf

Ursprünglichkeit und Unberührtheit: Im Herzen der Greina-Hochebene bewegen sich nur vereinzelte Wanderer. swissinfo.ch

Die Greina-Hochebene zwischen dem Tessin und Graubünden bietet ein unvergessliches Naturschauspiel. Der Landschaftsschutz soll nun möglicherweise eingeschränkt werden, um Wasserkraft nutzbar zu machen. Protest ist programmiert.

Euphorische Bezeichnungen gibt es viele für die Greina:  «Naturparadies», «ein Flecken Tibet», «unsere Tundra» oder auch «Wüste aus Gras und Stein».

Jede Besucherin und jeder Besucher wird dort etwas anderes finden. Doch sicher ist: Niemanden wird dieser Flecken Erde zwischen dem Bleniotal und dem bündnerischen Sumtvigt unberührt lassen.  

Kerngebiet ist die Schwemmebene der Plaun la Greina mit dem mäandrierenden Rein da Sumtvitg und seinen Zuflüssen – ein Ursprung des Rheins.

«Die weitläufige alpine Hochebene an der Grenze der Schweizer Kantone Tessin und Graubünden gehört zu den einzigartigsten und faszinierendsten Orten des gesamten Alpenbogens», schreibt Roberto Grizzi in der Einleitung zu dem im Jahr 2008 erschienenen Bildband «Greina», in dem vier namhafte Fotografen diesen Landstrich unter je eigenen Blickwinkeln und zu unterschiedlichen Jahreszeiten fotografierten.

Besonders eindrücklich an der Hochebene ist ihre Ursprünglichkeit und Unberührtheit. Während überall in den Alpen die Menschen ihre Spuren hinterlassen, scheint dieses Prinzip hier ausser Kraft gesetzt: Kein Haus, keine Seilbahn, keine Masten. Auch Bäume gibt es auf dieser Höhe nicht. Nur vereinzelte Wanderer, die sich auf den wenigen Bergpfaden bewegen.

Ein Pass ohne Passgeschichte

Drei Berghütten, die in der Sommersaison bewirtschaftet sind, grenzen die Hochebene wie ein Dreieck ein. Auf Tessiner Seite liegt die Capanna Scaletta am Ende des malerischen Val Camadra sowie die Alpenvereinshütte Motterascio – auch Michaela genannt. Sie liegt mitten in der gleichnamigen Alp auf 2172 Metern  Höhe und wird vom Staudamm Luzzone erreicht.

Die dritte Hütte – Terrihütte –befindet sich auf Bündner Seite, wurde 2007/2008 renoviert und liegt 2170 Meter hoch. Wer auf einer dieser Hütten angelangt ist, hat die Greina-Hochebene  praktisch erreicht. Die Crap la Crusch, das Herz der Ebene auf der Grenze zwischen dem Tessin und Graubünden, ist 2259 Meter hoch.

Der Passo della Greina hat eine Höhe von 2362 Metern. Dieser Pass hat, anders als der Gotthard- oder Lukmanier-Pass, nie eine ausgeprägte Passgeschichte geschrieben. Offenbar wurde er vor allem für den lokalen Handel zwischen Graubünden und dem Bleniotal genutzt.

Einzigartige Natur

Die Hochebene bildet ein Naturschauspiel ohnegleichen. Die Schattierungen und Farben lassen sich als Poesie mit und um den Stein interpretieren. Am erwähnten Crap la Crusch verläuft die Grenzlinie der Gesteine. Hier beginnen die dunklen Bündnerschiefer der Lias, welche die Landschaft südlich der Greina bestimmen.

Die Ebene ist zudem eine bedeutende Wasserscheide. Nur wenige Dezimeter können hier den Ausschlag geben, ob die Gewässer zum Mittelmeer (Brenno im Bleniotal, Ticino, Po) oder eben zur Nordsee (Rhein) fliessen.

Heute ist schwer vorstellbar, dass diese einzigartige Landschaft in den 1960er-Jahren einem Wasserkraftwerk hätte geopfert werden sollen. 1957 legten zwei Schweizer Gesellschaften ein Projekt für die Errichtung eines Stauwerks vor. 1962 erteilte der Kanton Graubünden die Konzession.

Entschädigung für entgangene Wasserzinsen

Doch in den 1970er- und 1980er-Jahren entwickelte sich starker Widerstand gegen das Projekt. Unter dem Druck der Umweltschützer und drohender Unwirtschaftlichkeit verzichteten die Bauherren 1986 auf ihr Projekt. Die Standortgemeinden waren darüber wenig glücklich, denn ihnen entgingen erhebliche Wasserzinseinnahmen.

Auf der rechtlichen Basis eines «Landschaftsfrankens» werden sie aber seither entschädigt. Es war ein Primeur: Die Schweiz zahlte erstmals Gemeinden eine Abgeltung für ein nichtgebautes Wasserkraftwerk.

Die Gelder dürfen die Gemeinden allerdings nicht einfach in die laufende Rechnung einschiessen, sondern müssen zweckgebunden für landschaftserhaltende Massnahmen eingesetzt werden.

«Keine Flutung der Greina»

Just in diesen Wochen hat die geschützte Greina-Hochebene unerwartete Aktualität erhalten. Denn nach dem Entscheid zum Atomausstieg will der Bundesrat einen bescheidenen Ausbau der Wasserkraft vornehmen. Gemeint sind Erhöhungen von Staumauern oder zusätzliche Kleinkraftwerke.

Das Bundesamt für Energie (BFE) stellt in diesem Zusammenhang zur Diskussion, dass auch geschützte Gebiete wieder der Wasserkraftnutzung zugeführt werden können – beispielsweise die Greina-Hochebene. 

Aber kaum wurde dies bekannt, erhob sich ein Chor von Protesten. Pro Natura sprach schon von einem «Ausstieg aus dem Natur- und Landschaftsschutz.»

Das BFE präzisierte umgehend, dass es sich um einen ökologisch vertretbaren Ausbau handle. Es könne nicht die Rede davon sein, «die Greina-Ebene zu fluten», erklärte BFE-Sprecherin Marianne Zünd im Tages-Anzeiger.

Die Greina-Hochebene ist ein zentrales Element im Projekt für den neuen Nationalpark Adula.

Dieser Park könnte auf 1000 Quadratkilometern der zweite Nationalpark der Schweiz werden und sogar der erste Nationalpark nach neuer Gesetzgebung, die vollständig auf dem Ansatz der Freiwilligkeit und der partizipativen Entstehung in den Regionen beruht.

Der Parc Adula bezieht deutsch-, romanisch- und italienischsprachige Gemeinden aus fünf Regionen Graubündens und des Tessins ein.

Diese Regionen umschliessen das Massiv des Rheinwaldhorns (3402 m), der höchste Punkt des ganzen Projektgebiets. «Adula» ist die romanische und italienische Bezeichnung des Berges, während «Parc», aus dem Romanischen stammend, ohne Zweifel auch in den andern beiden Idiomen verstanden wird.

Ein Nationalparkprojekt muss die Vorgaben der Schweizer Eidgenossenschaft erfüllen. Beim Bundesamt für Umwelt (Bafu) steht der Parc Adula jedenfalls hoch im Kurs.

Das Bafu gewährte den Kantonen Graubünden und Tessin für die Errichtung des Nationalparks rund um das Rheinwaldhorn im August 2010 Finanzhilfen in der Höhe von knapp 700‘000 Franken für die Jahre 2010-2011.

Ob der Parc Adula am Ende aber wirklich eingerichtet wird, hängt von der  Zustimmung und Unterstützung der einheimischen Bevölkerung ab.

Am Ende wird in jeder einzelnen Gemeinde abgestimmt. Und das Gesamtprojekt ist nicht unumstritten.

Die rigorosen Vorschriften für die Kernzone («Zugang nur auf markierten Wegen»), zu der die Greina-Hochebene gehört,  stossen beispielsweise bei Alpenvereinen auf Skepsis.

Spazio-Raum-Spazi Greina , Desertina Verlag, Chur, 2008

Angelo Valsecchi, la nostra tundra, Club Alpino Svizzero, Sezione Ticino

Kulturweg Alpen, Limmat Verlag, Zürich, 1999

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