Südamerikas tropische Gletscher sind ein bedrohtes Kulturerbe

In Kolumbien und Ecuador befinden sich einige der wenigen tropischen Gletscher der Erde. Diese in Äquatornähe gelegenen Gletscher sind besonders anfällig für den Klimawandel, und die Folgen ihres Abschmelzens sind gewaltig.
Für die Kogi, eine indigene Gemeinschaft im Norden Kolumbiens, ist die Bergkette Sierra Nevada de Santa Maria das Zentrum des Universums. Ihre Flüsse und Wälder sind Teil eines lebendigen Wesens, der Berg ist sein Körper und der Gletscher sein Gehirn.
Das Schmelzen der dortigen Gletscher, so glauben die Kogi, ist ein Zeichen des Ungleichgewichts zwischen Mensch und Natur.
Von den 14 tropischen Gletschern, die es zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Kolumbien gab, sind heute nur noch sechs übrig. Der letzte vollständig geschmolzene Gletscher, der Conejeras-Gletscher, verschwand vor etwas mehr als einem Jahr.
Gletscher, lokales Schmelzen und globale Auswirkungen
Der World Glacier Monitoring Service (WGMS)Externer Link sammelt und analysiert Daten zur Massenbilanz, zum Volumen, zur Fläche und zur Länge der weltweiten Gletscher. Er wurde 1986 gegründet und hat seinen Sitz an der Universität Zürich.
Der WGMS verfügt über ein Netzwerk von nationalen Korrespondentinnen und Korrespondenten in über 40 Ländern.
Im Internationalen Jahr der Gletschererhaltung haben wir einige von ihnen kontaktiert, um mehr über den Zustand der Gletscher in ihrer Region, die Folgen der Eisschmelze und Anpassungsstrategien zu erfahren.
«Wir haben in den letzten zwölf Jahren 30 Prozent der Gletscherfläche verloren», sagt Jorge Luis Ceballos Liévano vom kolumbianischen Nationalen Institut für Hydrologie, Meteorologie und Umweltstudien (IDEAM) gegenüber SWI swissinfo.ch.
Liévano ist der nationale Korrespondent in Kolumbien für den World Glacier Monitoring Service (WGMS)Externer Link mit Sitz in der Schweiz.
«Sollte sich dieser Trend in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts fortsetzen, könnten die kolumbianischen Gletscher verschwinden», warnt er. Das benachbarte Venezuela ist das erste Land der Erde, das alle seine Gletscher verloren hatExterner Link.
Ähnlich ist die Situation in Ecuador, wo die Gesamtfläche der Gletscher von knapp über 97 Quadratkilometern in den späten 1950er-Jahren auf heute 37 Quadratkilometer zurückgegangen ist, sagt Bolívar Ernesto Cáceres Correa, Glaziologe am Ecuadorianischen Institut für Meteorologie und Hydrologie und nationaler Korrespondent in Ecuador für WGMS.
«Gletscher unterhalb einer Höhe von 5130 Metern werden höchstwahrscheinlich in den nächsten zehn Jahren verschwinden», sagt er voraus.
>> Mehr zum Thema: Mit der weltweiten Gletscherschmelze wird das Monitoring der Schweiz immer wichtiger
Auswirkungen von El Niño auf die Gletscher in den Anden
Kolumbien und Ecuador gehören zu den wenigen Ländern der Welt, in denen es tropische Gletscher gibtExterner Link. Diese entstanden im tropischen Gürtel in Höhen über 4500 bis 5000 Metern, wo die Temperaturen niedrig genug sind, um Regen in Schnee zu verwandeln.
Tropische Gletscher existieren auch in Bolivien und anderen Andenländern, in Ostafrika (Kenia, Uganda und Tansania) und in Indonesien.
Im Gegensatz zu Alpengletschern sind tropische Gletscher von der Regenzeit abhängig. Die Akkumulationsperiode, in welcher der Gletscher wächst, ist relativ kurz, während sich das Schmelzen über den grössten Teil des Jahres erstreckt.
Diese Gletscher sind besonders anfällig für den Klimawandel. Da sie sich in bereits warmen Gebieten befinden, reicht schon ein geringer Temperaturanstieg aus, um sie schnell abschmelzen zu lassen.
Einem aktuellen Bericht der Weltorganisation für MeteorologieExterner Link zufolge schmelzen die tropischen Gletscher zehnmal schneller als im kumulierten globalen Durchschnitt. Zwischen 2000 und 2023 verloren sie mehr als 20 Prozent ihrer MasseExterner Link.
Gletscher in den Anden reagieren sehr empfindlich auf die Auswirkungen von El Niño, sagt Ceballos Liévano. El Niño ist eine anomale Erwärmung des Oberflächenwassers im äquatorialen Pazifik, die zu einem Anstieg der globalen Temperaturen führt.
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Negative Folgen für biologische Vielfalt und Tourismus
Die Andengletscher speisen das Amazonasbecken – das grösste Flussgebiet der Erde – und zahlreiche Flüsse des Kontinents. Im Gegensatz zu anderen Gletschern versorgen sie trockene und halbtrockene Regionen mit Wasser.
Langfristig wird das fehlende Gletschereis zu ernsthaftem Wassermangel für Millionen von Menschen führenExterner Link, die auf das Flusswasser zum Trinken und Kochen, zur Bewässerung von Feldern und zur Erzeugung von Strom aus Wasserkraft angewiesen sind.
Eine weitere Folge ist die veränderte Artenvielfalt in der Umgebung der Gletscher und im Páramo, dem «Schwamm» der Anden, sagt Cáceres Correa. Dieses Gebirgsökosystem in den Anden gleicht einer alpinen Tundra.
Der Páramo speichert das Schmelzwasser der Gletscher und gibt es in den Trockenmonaten wieder ab. Steigende Temperaturen und geringere Wasserressourcen können die Zusammensetzung der Flora und Fauna in diesem einzigartigen Ökosystem verändern.

Das schmelzende Eis hat auch zu Gletscherspalten und instabilen Geländegebieten geführt, die sich negativ auf den Tourismus in den Bergen ausgewirktExterner Link haben. «Die Zahl der Menschen, die Ecuadors schneebedeckte Berge besteigen wollen, ist drastisch zurückgegangen», sagt Cáceres Correa.
In Kolumbien betrachten die meisten Menschen Gletscher als wichtigen Teil der Berglandschaft und als ökologisches Erbe, stellt Ceballos Liévano fest.
Für einige indigene Gemeinschaften gelten Gletscher als heilige und spirituelle Gebiete, und ihr Verschwinden bedroht einige jahrhundertealte TraditionenExterner Link.
«Der Rückgang der Gletscher hat erhebliche kulturelle und spirituelle Auswirkungen auf Hochgebirgsgemeinschaften und führt zu einer Veränderung des Selbstverständnisses der Menschen vor Ort und ihrer Beziehung zu ihrer Umgebung“, sagt Elizabeth AllisonExterner Link, Professorin für Ökologie und Religion am California Institute of Integral Studies in den Vereinigten Staaten.
Ohne Gletscher sind die Götter weniger mächtig
Eine nachhaltige Bewirtschaftung der Wasserressourcen und die Erhaltung von Bergökosystemen wie dem Páramo gehören zu den wichtigsten Strategien, um sich an das Schmelzen der Andengletscher anzupassen.
In Ecuador konzentrieren sich die Initiativen vor allem auf die Optimierung der Viehhaltung und eine effizientere Wassernutzung in der Landwirtschaft, sagt Cáceres Correa. In der Vergangenheit hat die Schweiz Projekte zur Einführung neuer Bewässerungsmethoden in Bolivien finanziert.
Die südamerikanischen Länder müssen zudem ihre Energiequellen diversifizieren. Die Wasserkraft liefert rund 45 Prozent der auf dem Kontinent erzeugten ElektrizitätExterner Link (63% in Kolumbien und 79% in Ecuador, so die Zahlen aus dem Jahr 2023Externer Link).
Da die Gletscherabflüsse zurückgehen, wird weniger Wasser für den Antrieb der Turbinen und die Stromerzeugung zur Verfügung stehen. Die Alternative sind Investitionen in andere Energiequellen wie Solar- oder Windenergie.
>> Ein Schweizer Projekt versucht, das Wasser eines Gletschers in Bolivien zu bewahren, indem es altes Wissen und neue Technologien kombiniert, wie dieses Video zeigt:

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«Grüne Schwämme» schützen, um Wasser zu speichern
Feiern zu Ehren der Gottheiten, die auf schneebedeckten Gipfeln leben, werden auch ohne Gletscher fortgeführt, obwohl sich einige Rituale geändert habenExterner Link.
Beispielsweise ist es den Menschen bei den Quyllurit’i-Prozessionen in Peru nicht mehr erlaubt, Eisblöcke zu schneiden und ins Dorf zu bringen. Früher taten sie dies, weil sie glaubten, das Schmelzwasser habe heilende Kräfte.
Manche befürchten jedoch, dass die Berggeister mit dem Schrumpfen der Eisfläche an Macht verlieren und den indigenen Gemeinschaften weniger Schutz bieten werdenExterner Link.
Ob aus spirituellen oder wissenschaftlichen Gründen – diejenigen, die sich für den Schutz tropischer Gletscher einsetzen, sind sich einig, dass sie lebenswichtig sind.
Editiert von Gabe Bullard, Übertragung aus dem Englischen mit der Hilfe von Deepl: Petra Krimphove

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