Schweiz wegen Ilisu-Staudamm erneut in der Kritik
Der Bau des Ilisu-Staudamms in der Türkei ist weiter umstritten: Einwohner, die den Fluten weichen müssen, haben vor der Schweizer Botschaft in Ankara protestiert.
Sie drohten damit, dass rund 1500 Menschen in der Schweiz, in Deutschland und Österreich Asyl beantragen werden. Der Damm wird von Firmen aus diesen Ländern gebaut.
Der Ilisu-Staudamm in der Südosttürkei verändert das historische Gebiet im Tal des Flusses Tigris nachhaltig: Über 300 Quadratkilometer gross wird der Stausee. Rund 55’000 Menschen, vorwiegend kurdische Bauernfamilien, müssen den Fluten weichen und ihre Heimat verlassen.
Neben 198 anderen Siedlungen ist auch die 10’000 Jahre alte Stadt Hasankeyf, ein anerkanntes Kulturjuwel, dem Untergang geweiht.
«Tausende von Menschen würden durch den Ilisu-Stausee ihre Lebensgrundlage verlieren», erklärte Diren Özkan von der Initiative zur Rettung Hasankeyfs am Dienstag bei der Aktion in der türkischen Hauptstadt. «Wenn die Schweizer, Österreicher und Deutschen ihre Exportkreditgarantien nicht zurückziehen, werden wir als Nächstes in diesen Ländern Asyl beantragen.»
Rund 100 Demonstranten übergaben den Botschaftern der drei Länder einen entsprechenden Brief, wie die Nichtregierungs-Organisation Erklärung von Bern (EvB) mitteilte.
Auflagen missachtet
Die Kritik von Anwohnern des Tigristales und EvB: Die Türkei hält die Auflagen zum Schutz von Menschen, Umwelt und Kulturgütern nicht ein, welche die Bauherrin auf Druck der Exportrisikoversicherer einhalten muss.
Seitens der Schweizer Wirtschaft sind die vier Unternehmen Alstom, Colenco, Maggia und Stucky am Projekt beteiligt, das auf 1,2 Mrd. Euro veranschlagt ist. Den Firmen hatte der Bundesrat vor einem Jahr eine Exportrisikogarantie von 225 Mio. Franken zugesichert.
«Der Protest ist verständlich und wir nehmen diesen sehr ernst», sagt Christoph Sievers, Direktor der Schweizerischen Exportrisikoversicherung (Serv) gegenüber swissinfo. Ein unabhängiges Expertenteam habe im Dezember festgestellt, dass die Schutzvereinbarungen nur teilweise eingehalten würden, heisst es in einer Serv-Mitteilung.
Das Team überprüft zuhanden der beteiligten Versicherungen regelmässig, ob die Auflagen umgesetzt werden.
Insgesamt positiv
Die Kontrollkommission habe deshalb Vorschläge zur Behebung der Mängel formuliert und dem türkischen Wasserbauministerium Korrekturmassnahmen vorgeschlagen.
Die Schweizer Beteiligung ist laut Sievers zur Zeit nicht in Frage gestellt. «Die Entwicklung in der Türkei mit dem Staudamm wird genau verfolgt», sagt er.
Die protestierende lokale Bevölkerung sieht das anders. «Hasankeyf ist unsere Geschichte, Kultur und unser Gedächtnis», schreiben sie im Brief an die Botschafter. Sie rufen die Politiker auf, ihre Unterstützung des Projektes sofort zurückzuziehen. Statt des Staudamms brauche die Region die Entwicklung des Tourismus und der Landwirtschaft.
Die EvB wirft den Regierungen vor, mit den Exportrisikogarantien grünes Licht für den Bau des umstrittenen Dammes gegeben zu haben.
Die ersten Enteignungen an der Dammbaustelle hätten gezeigt, dass die türkische Wasserbaubehörde die Auflagen der europäischen Regierungen ignoriert hätten. Es fehle an fruchtbarem Land, um ein neues Leben aufzubauen.
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Exportrisiko-Versicherung
Gleichwertiger Ersatz
Bei der Exportrisikoversicherung teilt man den Ansatz dieser Kritik. Bei der Umsiedlung entschädigt der türkische Staat die Betroffenen in der Regel für das verlorene Land nach türkischem Recht.
Die beteiligten Exportkreditagenturen in Deutschland, Österreich und der Schweiz fordern stattdessen die Prüfung des Prinzips der Wiederherstellung der Lebensbedingungen.
Die Serv streicht weiter heraus, dass Ilisu-Wasserkraftwerk sei das erste Projekt, das flankierende Massnahmen nicht nur vorsehe, sondern deren Erfüllung auch kontrolliert.
Dazu nimmt die Kontroll-Kommission laut Sievers auch künftig laufend Beurteilungen vor. Stelle sie Verstösse gegen die gemachten Zusicherungen fest, könne sie korrigierende Massnahmen vorschlagen, welche im Extremfall zur Verzögerung des Baus oder der Kündigung der Deckung des Projekts führen können.
Die Serv erstattet dem Bund regelmässig Bericht über den Stand des Projekts in der Südosttürkei. Im Fall einer möglichen Eskalation wird das Staatssekretariat für Wirtschaft des Bundes (Seco) konsultiert.
Keine Hektik in Bern
Bern aber bleibt momentan gelassen. Das Schweizerische Aussenministerium (EDA) bestätigte lediglich die Überreichung des Schreibens bei der Schweizer Botschaft in Ankara. «Die Botschaft nimmt die Anliegen der Befürworter und der Gegner des Projekts entgegen,» sagte ein EDA-Sprecher.
Gelassenheit signalisiert auch das Bundesamt für Migration. Sprecher Jonas Montani schliesst zwar nicht aus, dass Asylgesuche aus dem Südosten der Türkei bewilligt werden könnten. Umweltgründe würden aber nicht als zwingende Fluchtgründe gelten, schränkt er ein.
swissinfo, Renat Künzi
Das umstrittene, 1,5 Mrd. Franken teure Ilisu-Staudammprojekt am Fluss Tigris ist Teil der gross angelegten wirtschaftlichen Umgestaltung Südostanatoliens.
Der Ilisu-Damm wird 135 Meter hoch und 1820 Meter lang. Die Kraftwerke sollen 3,2% der Gesamtenergie der Türkei erzeugen.
Dadurch entsteht ein über 300 Quadratkilometer grosser See, den die Türkei zur Gewinnung von Spitzenenergie nutzen will.
Insgesamt sind an Euphrat und Tigris 22 Dämme und 19 Wasserkraftwerke geplant. Die Pläne haben für die türkische Regierung «nationale Priorität». Die Bauarbeiten werden vorwiegend türkische Unternehmen ausführen.
Ein Konsortium aus österreichischen, deutschen und schweizerischen Firmen soll den grössten Teil der technischen Ausrüstung beisteuern.
Durch den Bau des Ilisu-Staudammes verschwinden jahrtausendealte Kulturgüter, v.a. die südanatolische denkmalgeschützte Stadt Hasankeyf.
Die meisten Menschen, die ihre Heimat verlieren, werden ohne gesicherte Perspektive in Städte abwandern.
Umweltorganisationen befürchten, der Stausee könne sich angesichts der vielen ungeklärten Abwässer rasch in eine versalzene, sauerstoffarmer Kloake ohne Fische verwandeln.
Dem Wasser kommt in der Region eine strategische, geopolitische Dimension zu. Einerseits treffen die Umsiedlungen in grossem Mass die kurdische Minderheit. Die Anrainerstaaten Syrien und Irak fürchten, die Türkei könne den Wasserabfluss des Ilisu zu ihrem Nachteil regulieren.
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