Trotz viel Schnee: Schweizer Gletscher weiterhin bedroht
Nach zwei Jahren extremer Gletscherschmelze sind die 1400 Eisriesen der Schweiz mit einer dicken Schneeschicht bedeckt, weil in diesem Winter bis zu sechs Meter Schnee gefallen sind. Der Schweizer Glaziologe Matthias Huss erklärt, warum die langfristige Zukunft der stetig schrumpfenden Alpengletscher düster bleibt.
Dieser Winter war für die Schweizer Gletscher einer der besten seit längerer Zeit. Die Forschenden des Netzwerks Gletscherbeobachtung Schweiz (Glamos) schätzen, dass auf den 1400 Gletschern der Schweizer Alpen im Durchschnitt 31% mehr Schnee gefallen ist als in der Vergleichsperiode 2010 bis 2020.
Auf den Eisriesen oberhalb von 3000 Metern über Meer hat sich stellenweise eine sechs Meter dicke Schneedecke gebildet.
«Das diesjährige Wetter ist bisher ein Segen für die Schweizer Gletscher», sagt der Glaziologe Matthias Huss. Der Leiter von Glamos, der auch an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) lehrt, beobachtet die Gletscher in der Schweiz seit 20 Jahren.
Im April und Mai 2024 haben er und sein Team 14 Gletscher für Messungen besucht und die Daten für ihren WinterberichtExterner Link hochgerechnet.
Die Situation auf den Gletschern sei sehr gut, sagt er. Auf allen Schweizer Gletschern liegt überdurchschnittlich viel Schnee, rund ein Drittel meldet Rekordschneehöhen.
Der diesjährige Schneefall ist der zweitgrösste auf Schweizer Gletschern in den letzten 20 Jahren. Die grösste Schneemenge gab es 2018 mit 35% mehr Schnee im Vergleich zum Referenzzeitraum 2010-2020.
Besonders profitiert haben die Gletscher im Tessin, im Engadin, in der Westschweiz und am Alpennordhang.
Ganz anders als 2022-23
Am 4. Juni teilte Huss auf der Plattform X (ehemals Twitter) mit, dass der Höhepunkt der Schneeansammlung wahrscheinlich am Vortag erreicht worden sei und die Gletscherschmelze in den Schweizer Alpen nun begonnen habe.
«Das ist ziemlich spät, aber nicht aussergewöhnlich spät», sagt er.
Die Situation unterscheidet sich deutlich von jener in den Jahren 2022 und 2023, als die Gletscherschmelze Anfang Mai bei warmem Wetter und mit einer dünnen Schneedecke begann.
Starke Hitzewellen im Sommer führten damals dazu, dass die Schweizer Gletscher 2023 4% ihres Volumens verloren – der zweitgrösste Verlust aller Zeiten nach der Rekordschmelze von 6% im Jahr 2022.
Was sind Huss› Prognosen für 2024?
Trotz des «doppelten Vorteils» einer relativ späten Schneeschmelze und einer überschüssigen Schneedecke ist es gemäss Huss schwierig vorherzusagen, was passieren wird – ob es nur eine kurze Atempause ist oder eine langsamere Schneeschmelze geben wird.
«Alles ist möglich – aber das hängt natürlich vom Sommerwetter ab», sagt er. «Es ist nicht ausgeschlossen, dass 2024 für die Schweizer Gletscher eine ausgeglichene Situation ohne Verluste erreicht wird.»
Die Vorhersage basiert auf seiner Modellierung des geschätzten Gletscherschwunds unter Verwendung der Witterungsmuster des eher regnerischen und kühlen Sommers 2021 und des sehr heissen Sommers 2022.
«Wenn wir diese beiden Extreme betrachten, sehen wir, dass zumindest bei einigen Gletschern ein moderater Massenzuwachs möglich wäre», sagt er. Einige der Eisriesen würden aber selbst im positivsten Szenario noch etwas an Masse verlieren.
Sollte sich jedoch das Warmszenario wiederholen, würden alle Gletscher erneut «starke Verluste» erleiden, wenn auch nicht so extrem wie in den Jahren 2022 oder 2023.
Gibt es Hoffnung für die Schweizer Gletscher?
Seit 1850 ist das Volumen der Alpengletscher um rund 60% zurückgegangen. In den letzten Jahrzehnten haben die Schweizer Gletscher aufgrund der Klimakrise eine noch nie dagewesene Masse verloren und Rekorde gebrochen.
Laut einer internationalen Studie von 2023 könnten die Gletscher Europas unter den derzeitigen Klimabedingungen bis 2100 praktisch verschwunden sein.
Eine französisch-schweizerische Studie von Anfang dieses Jahres prognostiziert, dass das Eisvolumen der europäischen Gletscher bis 2050 um 34% bis 50% schrumpfen wird.
Gibt es nach dem, was wir in diesem Winter gesehen haben, noch Hoffnung für die Schweizer Gletscher? «Das hängt davon ab, wie man Hoffnung definiert», sagt Huss.
«Es gibt eine gewisse Hoffnung für dieses Jahr, dass die Verluste nicht noch grösser werden. Oder dass die Gletscher vielleicht moderate Verluste erleiden. Oder dass wir sogar ein Jahr ohne Verluste haben.»
Aber es gebe keine Möglichkeit, die enorme Gletscherschmelze der letzten 20 Jahre auszugleichen, sagt Huss.
Die Bildung eines Gletschers hängt vor allem von den Niederschlägen im Winter ab. Sie müssen so gross sein, dass ein Teil des Schnees den folgenden Sommer überdauert.
Dieser Vorgang muss sich über mehrere Jahre wiederholen, bis der Schnee schliesslich durch sein eigenes Gewicht zu Eis wird.
Ist diese Eisschicht dick genug, kann sie unter dem Einfluss der Schwerkraft abfliessen. Diese Umwandlung von Schnee in Eis ist oft ein langwieriger und komplizierter Prozess, dessen Art und Dauer von der Umgebungstemperatur und der Dicke der darüber liegenden Schneeschicht abhängt.
Die Umwandlung erfolgt am schnellsten in gemässigten Regionen wie den Alpen und am langsamsten in polaren Regionen wie der kanadischen Arktis.
Bei der Umwandlung von Schnee in Eis werden die Schneeflocken rund und körnig, ähnlich wie grober Zucker. Wenn der Schnee zusammengepresst wird, wird er härter und dichter.
Nach ein bis zwei Jahren verwandelt sich der Schnee in Firn, eine Zwischenstufe auf dem Weg zu Eis. Der gesamte Prozess vom Schnee zum Gletschereis kann bis zu fünf Jahre dauern.
«Insofern gibt es keine Hoffnung, dass die Gletscher wieder in einen gesunden Zustand zurückkehren», sagt der Glaziologe. Dazu bräuchte es über mehrere Jahrzehnte starke Schneefälle im Winter und sehr kühles, regnerisches Sommerwetter.
«Aber das ist angesichts der bisherigen Klimageschichte sehr unwahrscheinlich», so Huss.
Editiert von Virginie Mangin, Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub
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