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Warum die Schweiz beim Energiecharta-Vertrag von Europa abrückt

Das Kraftwerk in Lünen, das sich in eimem See spiegelt.
Steinkohlekraftwerk in Lünen, Deutschland. Bernd Thissen / Keystone

Die EU wird aus dem Energiecharta-Vertrag austreten, einem internationalen Abkommen, das Investitionen in Kohle und Öl schützt. Die Schweiz hingegen hält an diesem Abkommen fest, das mit den Klimazielen unvereinbar ist. Warum und mit welchen Folgen?

Wenn Sie noch nie davon gehört haben, ist das nicht weiter verwunderlich. Der Energiecharta-Vertrag (ECT) ist in der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt.

Er hat jedoch erhebliche Auswirkungen auf die Art der Energie, mit der wir unsere Häuser heizen und unsere elektronischen Geräte betreiben.

Was hat es damit auf sich?

Der ECTExterner Link ist ein von der Europäischen Union (EU) gewolltes Abkommen über die Zusammenarbeit im Energiebereich. Es enthält verbindliche Bestimmungen zum Schutz von Investitionen und Handel.

Der ECT wurde nach dem Ende des Kalten Kriegs geschaffen, um die Länder der ehemaligen Sowjetunion in die europäischen und globalen Energiemärkte zu integrieren. Er wurde 1994 in Lissabon unterzeichnet und trat 1998 in Kraft.

Ursprünglich bot der Vertrag westlichen Unternehmen, die in die Energieressourcen der ehemaligen Sowjetstaaten investierten, zusätzliche Garantien. So schützte der Vertrag beispielsweise Investitionen in Gas und Öl vor Enteignung, Verstaatlichung und vorzeitigem Vertragsabbruch.

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Welche Länder sind am Abkommen beteiligt

Fast alle EU-Mitgliedstaaten, das Vereinigte Königreich, Norwegen, die Türkei, Japan und einige zentral- und westasiatische Länder haben den ECT unterzeichnet. Die Schweiz hat ihn 1996 ratifiziert.

Doch das Abkommen ist nicht mehr einstimmig. Einige Länder sind aus dem Abkommen ausgestiegen: Italien hat dies 2016 getan respektive die Absicht bekundetExterner Link, dies zu tun. Am 30. Mai kündigte die EU an, dass sie den ECT zum Jahresende verlassen wird.

Warum ziehen sich die Länder aus dem Energievertrag zurück?

Der ECT wird als Hindernis für die Umsetzung der nationalen Klimapolitik kritisiert. Für den Europäischen RatExterner Link steht er nicht mehr im Einklang mit dem Pariser Klimaabkommen und den Ambitionen für die Energiewende.

Der Vertrag sieht vor, dass ein Unternehmen oder eine Investor:innengruppe einen Staat verklagen und Schadensersatz fordern kann, wenn sie der Meinung sind, dass die nationale Politik ihre Aktivitäten und Interessen bedroht.

So könnte beispielsweise ein Unternehmen, das Ölfelder betreibt, gerichtlich gegen Regierungen vorgehen, die Gesetze zur Reduzierung der CO2-Emissionen erlassen.

Seit der Unterzeichnung des Abkommens hat es weltweit mehr als 160 Klagen Externer Linkgegeben. Bisher haben acht Schweizer Investor:innen im Rahmen des ECT gegen einen Staat geklagt.

Die jüngste ist die der Azienda Elettrica Ticinese (AET), die 2023 die deutsche RegierungExterner Link im Zusammenhang mit ihrem Beschluss zum Kohleausstieg verklagt hat.

Zehn Jahre zuvor hatte AET 35 Millionen Franken in das Kohlekraftwerk in Lünen im deutschen Ruhrgebiet investiert.

Die Klage von AET gegen Deutschland ist «besorgniserregend, weil sie ein Signal an andere Länder senden könnte, die versuchen, aus der Kohle auszusteigen», sagt Kyla Tienhaara, Professorin für Umweltstudien an der kanadischen Queen’s University.

Angesichts der zunehmenden Zahl von Rechtsstreitigkeiten haben die EU-Länder vorgeschlagen, den Vertrag zu ändern.

Ziel ist es, den Schutz von Investitionen in fossile Energien auslaufen zu lassen und den ECT mit dem Pariser Abkommen in Einklang zu bringen. Bislang konnte jedoch kein Kompromiss gefunden werden, was mehrere Länder dazu veranlasst hat, den Vertrag aufzugeben.

Externer Inhalt

Ist der ECT ein Hindernis für die Energiewende?

Der ECT hindere keinen Unterzeichnerstaat daran, eine ambitionierte Klimapolitik zu verfolgen, argumentiert die Schweizer Regierung.

Der Weltklimarat (IPCC) und mehr als 500 Klimawissenschaftler:innen und -expert:innen sind dagegen der Meinung, dass der Schutz von Investitionen in fossile Energien durch den Vertrag ein Hindernis für die EnergiewendeExterner Link darstellt.

«Es ist klar, dass der ECT, ob reformiert oder nicht, mit dem Ziel eines Null-Emissions-Budgets unvereinbar ist», sagt Eunjung Lee, Beraterin bei E3G, einem unabhängigen Think Tank zum Klimawandel, gegenüber SWI swissinfo.ch.

Die ECT ist «ein mächtiges Instrument in den Händen der grossen Gas-, Öl- und Kohlekonzerne, um Regierungen davon abzuhalten, den Übergang zu sauberen Energien zu vollziehen», argumentiert Alliance SudExterner Link, eine Arbeitsgemeinschaft führender Schweizer Organisationen der internationalen Zusammenarbeit.

Besonders umstrittenExterner Link ist der Mechanismus zur Streitbeilegung zwischen Investor:innen und einem Staat, der eine private Schiedsgerichtsbarkeit vorsieht. Er würde multinationale Konzerne begünstigen und ihnen Entschädigungen in Milliardenhöhe bescheren, so die Kritiker:innen des ECT.

Grundsätzlich sollte ein Investor, der [aufgrund von Emissionsminderungsmassnahmen] Geld verliert, eine Entschädigung erhalten können», sagt Isolda Agazzi von Alliance Sud.

Die Höhe der Entschädigung sollte jedoch von einem inländischen Gericht oder durch andere Verfahren festgelegt werden, nicht von einer privaten supranationalen Gerichtsbarkeit, die für ausländische Unternehmen zuständig ist, sagt sie.

Was ist die Haltung der Schweiz?

Im Jahr 2021 erklärte die Schweizer RegierungExterner Link, dass ein Ausstieg aus dem Vertrag sowohl dem Mandat als auch den Interessen der Schweiz zuwiderlaufen würde.

Die Schweiz unterstützt jedoch die Modernisierung des ECT. Laut Marianne Zünd, Kommunikationschefin des Bundesamtes für Energie, wird der Umwelt- und Klimaschutz dadurch deutlich gestärkt.

Der neue Text solle das Pariser Abkommen erwähnen und den Mitgliedstaaten erlauben, fossile Energien einseitig von der Liste der zu schützenden Investitionen auszunehmen.

Indem die Schweiz am Vertrag festhält, «widerspricht sie ihren eigenen Klimaverpflichtungen und verteidigt ein veraltetes Rechtssystem, das die Interessen der fossilen Energieträger über die der Bürger stellt», sagt hingegen Eunjung Lee.

Yamina Saheb, eine ehemalige ECT-Mitarbeiterin und Autorin eines IPCC-Berichts über die Eindämmung des Klimawandels, hält die Position der Schweiz ebenfalls für «unverständlich» und «im Widerspruch zur Klimapolitik» des Landes.

Was könnten die Folgen eines Verbleibs der Schweiz im ECT sein?

Alliance Sud und andere Nichtregierungsorganisationen befürchten, dass fossile Energiekonzerne ihren Sitz aus der EU in die Schweiz verlegen werden. Dies würde es ihnen ermöglichen, weiterhin gegen Staaten zu klagen, die eine Klimaschutzpolitik betreiben.

«Die Schweiz wird zu einem Stützpunkt für skrupellose Investoren, die es wagen, die Auslaufklausel des ECT gegen Länder einzusetzen, die aus dem Vertrag aussteigen», sagt Yamina Saheb. Diese Klausel erlaubt es, ein Land bis zu 20 Jahre nach seinem Austritt aus dem Vertrag zu belangen.

Das Bundesamt für Energie sagt, es wolle sich zu solchen «Spekulationen, für die es derzeit keine Belege gibt», nicht äussern.

Die Schweiz rechnet damit, dass die Modernisierung des ECT an der nächsten Energiecharta-Konferenz im Herbst 2024 verabschiedet wird, sagt Marianne Zünd. Die Landesregierung wird dann entscheiden, wie es weitergeht, und dabei berücksichtigen, welche EU-Mitgliedstaaten austreten werden.

Editiert von Sabrina Weiss und Veronica De Vore, aus dem Italienischen übertragen von Marc Leutenegger

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