100 Jahre Tinguely: Jubiläumsausstellung in Mailand
Als Auftakt der Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag von Jean Tinguely (1925–1991) wird im Hangar Bicocca in Mailand eine Jubiläumsausstellung eröffnet. Mit der Retrospektive wird der Pionier der kinetischen Kunst mit 40 seiner Skulpturen von den 1950er- bis in die 1990er-Jahre geehrt.
Jean Tinguely war noch ein kleiner Junge, als der alte Hangar Bicocca ein wichtiges Rädchen in Mussolinis Kriegsmaschinerie war. In der Mailänder Industriehalle wurden Gusseisen-Bauteile für Lokomotiven, Flugzeuge und militärische Ausrüstung gefertigt. Die Giesserei existierte noch bis 1986 und wurde danach in ein Kulturzentrum umgebaut.
Mit der Ausstellung in MailandExterner Link schliesst sich nun ein Kreis in Jean Tinguelys internationaler Karriere. Hier nahm der aufstrebende Künstler auf Einladung von Bruno Munari (1907–1998), einem der Schöpfer programmierter und kinetischer Kunst, an einer Ausstellung teil. Sein damaliger Beitrag «Tricycle» (1954) ist auch bei der Retrospektive in Mailand zu sehen.
Es war die Zeit des wirtschaftlichen Wiederaufschwungs nach dem Krieg und der Beginn der Konsumgesellschaft. Es war auch die Zeit, als Züge, Autos, Motorräder, Spielzeuge und Haushaltgeräte die Strassen und Wohnungen fluteten.
Alles war grossartig und neu, mit verstecken Schaltungen in ausgeklügelten Getrieben – und alles landete irgendwann im Müll. Die enormen Abfallberge aus der industriellen Produktion waren reif für die Wiederauferstehung.
Tinguely betrachtete weggeworfenes Alteisen als Rohstoff für seine kinetischen Skulpturen. Für ihn war die Maschine «in erster Linie das Instrument, das es mir ermöglicht, poetisch zu sein».
Charmante Nutzlosigkeit
Tinguely beobachtete, erkundete und zerlegte letztlich die Fliessbänder der industriellen Produktion. Er schenkte vielen Gegenständen ein zweites Leben und verlieh ihnen eine charmante Nutzlosigkeit – in Einzelteilen und anders geformt, waagrecht statt senkrecht oder umgekehrt, immer aber ohne Bezug zu ihrem ursprünglichen Zweck.
Schrottteile landwirtschaftlicher Nutzfahrzeuge, Pressen, Bohrmaschinen, Deckel und Haifischzähne erfuhren durch Tinguelys künstlerische Hand eine komplett neue Sinnfreiheit und Absurdität.
Tinguely erschuf mit seiner subversiven Interpretation des industriellen Projekts stets aufs Neue sinnlose Formen und Nicht-Funktionen, die immer auch eine gewisse Komik oder Tragik ausstrahlten und stets provozierten.
Als einer der Pioniere der kinetischen Kunst wurde der Schweizer so zu einem massgebenden Vertreter des Neuen Realismus, der auf die Verwendung rezyklierter Materialien setzte.
Kunst aus Abfall war damals nur für wenige Kunstschaffende ein Thema. Einer von ihnen war Richard Stankewicz (1922–1986), der aus wiederverwendetem Metall statische Kunstwerke herstellte.
Tinguely, der selber bereits ein kleines, von der Decke hängendes Objekt mit Motor geschaffen hatte, sah Stankewicz’ Werke erstmals 1948 und war sofort begeistert.
Zu Stankewicz’ Ehren schuf und zerstörte Tinguely 1960 sein berühmtes Werk «Homage to New York» im Garten des Museum of Modern Art in New York.
«Der kurzlebige Moment der Überraschung war sicherlich ein zentraler Aspekt in Tinguelys Universum. Es wurde nicht viel geplant, alles wurde an Ort und Stelle zusammengebaut», sagt Lucia Pesapane, Co-Kuratorin der Mailänder Retrospektive anlässlich der Vernissage im Hangar Bicocca.
«Und Tinguely war begeistert, wenn es nicht funktionierte. Das Improvisierte und das Nicht-Funktionieren waren für ihn Ausdruck des echten Lebens, das wir annehmen müssen. Je mehr sich ein Kunstwerk selbst zerlegte und explodierte, desto wahrhaftiger empfand er es.»
Die Kunst des Zusammenbaus
Noch bevor man beim Betrachten in Sinnieren kommt, bringen Tinguelys Kunstwerke diejenigen zum Grübeln, die sie zusammenbauen müssen.
Für Pesapane kommt dabei eine weitere Eigenschaft des Künstlers zu Vorschein: Nichts wird dem Zufall überlassen. «Bei Tinguelys Kunstwerken sind sowohl der Transport als auch der Auf- und Abbau eine monumentale Aufgabe, die vom Künstler bis ins Detail durchdacht und ausgeführt wurde – und praktisch immer ohne Bedienungsanleitung.»
Sie erinnert daran, dass die Kunstwelt der 1960er-Jahre noch nicht der Logik des Markts unterworfen war. «Tinguely fand nichts dabei, wenn Kunstwerke zerstört wurden, und machte sich kaum Gedanken zu ihrer Langlebigkeit oder ihrer Erhaltung», sagt die Kuratorin.
«Für unsere Ausstellung war dies eine zusätzliche Herausforderung, denn sie erstreckt sich von den Anfängen seines Schaffens bis zu seinem Lebensende in den frühen 1990er-Jahren.»
Gut die Hälfte der Werke für die Retrospektive stammt aus der Sammlung des Tinguely Museum in BaselExterner Link, die übrigen Exponate stellten Museen in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und private Sammlungen zur Verfügung.
Die Vorbereitungen zur Ausstellung in Mailand nahmen fast zwei Jahre in Anspruch. Jedes Kunstwerk kommt in einer eigenen Kiste, die monumentalen Installationen aber sind in bis zu zehn oder gar fünfzehn Kisten verpackt.
«Die Logistik war zwar teilweise schon sehr kompliziert – umso faszinierender ist es nun, die Kunstwerke hier ausgestellt zu sehen,» freut sich Pesapane.
Befreiende Verspieltheit
Jean Tinguelys Kunstwerke versprühen Neugier und Kreativität. Sie erinnern an die Welt von Kindern, denn die Installationen sind in ihrer Art und in ihrer Funktionsweise sehr verspielt.
Andererseits spiegeln sie eine Welt wider, die sich in allen Lebensbereichen laufend beschleunigte. Letztlich aber obsiegt der Aspekt des Spiels über die Macht des Antriebs.
«Diese Verspieltheit ist ein zentrales Element in Tinguelys Schaffen», sagt Roland Wetzel, Leiter des Tinguely Museums in Basel. «Tinguely wuchs in einer katholischen Familie im protestantischen Basel auf. Diese Voraussetzung hat ihm eine andere Sicht auf die Welt ermöglicht.»
Die Ausstellungsfläche in Mailand steht in direktem Verhältnis zu Tinguelys intellektueller Grandeur und seiner künstlerischen Bedeutung: 5000 Quadratmeter stehen im Hangar Bicocca für seine Werke zur Verfügung.
In einem Nebenraum wird die Performance «La Vittoria» projiziert, die 1970 in Mailand stattfand: Ein überdimensionierter Penis unmittelbar vor dem Mailänder Dom, der Feuerwerk in den Nachthimmel ejakuliert und den Tod des Neuen Realismus symbolisiert.
Als Besucher:in bewegt man sich ohne Zeitachse und Kontinuität durch die Ausstellung, die in der schnelllebigen Zeit von heute ganz bewusst die Langsamkeit zelebriert.
«Pit Stop» (1984) ist eine Skulptur aus Einzelteilen eines Formel-1-Autos. Für diese Auftragsarbeit wurden Originalbauteile eines Renault RE40 in scheinbar chaotischer Weise angeordnet.
Sie stehen im Kontrast zu den im Hintergrund laufenden Bildern eines klar strukturierten und nahtlos ablaufenden Boxenstopps beim Formel-1-Rennen in Monza.
Gleich daneben klackt und rasselt die Skulptur «Schreckenskarrette – Viva Ferrari» (1985) zu Ehren des italienischen Rennstalls.
«Wenn man die Maschine respektiert, wenn man sich auf das Spiel mit ihr einlässt, kann man die verspielte Maschine vielleicht zum Leben erwecken – und mit verspielt meine ich frei», theoretisierte Tinguely.
Rattern, bis der «Doktor» ranmuss
In anderen Werken fällt den Besucher:innen eine aktive Rolle zu. Sie drücken mit dem Fuss auf einen Knopf, schalten damit einen Motor ein und erwecken die Skulptur so zum Leben, wie in der «Maschinenbar» (1960–85).
Das Werk «Méta-Matic No. 10» (1959) hingegen war nicht mehr in Betrieb und drohte zu zerfallen – ein Fall für den «Doktor» alias Jean-Marc Gaillard, beim Tinguely Museum zuständig für Restaurierung und Konservierung.
«Für meine Behandlung brauche ich nicht viel: Schraubenzieher, Zangen usw. Es muss eine Verbindung von den Händen über den Kopf bis zum Herzen entstehen, wenn man diese Werke lieben und verstehen will», erzählt Gaillard bei der Reparatur einer kinetischen Skulptur namens «Rotozaza No. 2» (1987).
«Meistens komme ich frühmorgens, setze mich hin oder gehe durch die Ausstellung und sage jedem Kunstwerk ‹Guten Morgen!›. Dann stehe ich da, höre ihnen zu und versuche zu spüren, ob etwas nicht so ist, wie es sein sollte.»
Gaillard hat ein gutes Musikgehör und blüht beim Quietschen und Ächzen der mechanischen Kreaturen förmlich auf. «Manchmal sind die Werke erkältet, wie wir. Dann nehme ich sie aus der Ausstellung», sagt er und schlägt vor, «Méta-Matic No. 10» eine Pause zu gönnen.
Wenn er nicht gerade im Museum selbst Werke restauriert, ist er stets auf der Suche nach Ersatzteilen für die Installationen.
«Für den Ersatz eines Teils kommen nur gebrauchte Materialien in Frage. Das Ersatzteil muss dem Original immer möglichst nahekommen, Tierskelette oder Holzräder beispielsweise. Und wir möchten ein Ersatzteillager für die Zukunft anlegen, für die nächsten 40 Jahre – das ist keine leichte Aufgabe», schliesst «Doktor» Gaillard.
Das Leben und Schaffen von Jean Tinguely ist eng verbunden mit seiner Beziehung zur Künstlerin Niki de St. Phalle. Mehr zum Künstler-Duo (mit Video):
Mehr
Niki de St. Phalles Werk passt in kein Museum
Editiert von Virginie Mangin / ac, Übertragung aus dem Englischen: Lorenz Mohler
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch