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Überwachung: Der Ausnahmezustand ist normalisiert

Trümmer des World Trade Centers in New York, 2001.
New York, 11. September, 2001. Diese Bilder haben sich in das Kollektive Gedächtnis gebrannt: Arbeiterinnen und Arbeiter beginnen, die Trümmer der eingestürzten Twin Towers zu räumen. Steve Mccurry/Magnum Photos

Nichts hat das Sicherheitsgefühl mehr erschüttert als die Anschläge am 11. September 2001. In der Zeit danach fällt der Aufstieg einer härteren Terror-Gesetzgebung, einer grösseren Akzeptanz gegenüber staatlicher Überwachung und einer populären Kultur der Datenerfassung zusammen.

Bei diesem Datum ist auch ohne das Jahr zu nennen, allen klar, um welchen Tag es sich handelt: 9/11 markiert einen historischen Wendepunkt. 20 Jahre sind seit dem denkwürdigen 11. September 2001 verstrichen.

Natürlich kennt auch Europa Terroranschläge bereits davor – doch keiner erschüttert das Lebensgefühl in der gesamten westlichen Welt so sehr wie 9/11. Der blutigste Terroranschlag in der Schweiz ist 50 Jahre her. Eine Bombe der Volksfront zur Befreiung Palästinas explodiert 1970 im Frachtraum eines Swissair-Flugzeugs. Die Maschine stürzt bei Würenlingen AG in den Wald. Alle 47 Menschen an Bord sterben. Seither kam es auch in der Schweiz zu mehreren terroristischen Vorfällen, Messerattacken, versuchten Attentaten. Manche sind – wie der 2019 geplante Anschlag des Islamischen Staates (IS) am Rheinhafen – im Vorfeld vereitelt worden. Doch auch in der Schweiz hat keiner dieser Vorfälle emotional so viel ausgelöst wie 9/11 in den USA.

Woran liegt das? Zunächst an den Bildern: Die Anschläge von 2001 sind hollywoodesk: Die TV-Bilder gleichen einem spektakulären Action-Film in Endlosschlaufe. Vier koordinierte Flugzeugentführungen führen an diesem Tag zu vier Selbstmordattentaten. Im kollektiven Gedächtnis sind nur die zwei in New York City verblieben. Denn die Stadt ist nicht nur eine amerikanische Metropole, sie ist auch ein Sehnsuchtsort vieler Schweizerinnen und Schweizer. Viele haben auf den eingestürzten Türmen des World Trade Centers einst die Aussicht auf die einmalige Skyline genossen. Nicht zuletzt: Der Anschlag von 9/11 kostet insgesamt 3000 Todesopfer. Nach dem Anschlag erleben die USA eine beispielhafte internationale Solidaritätswelle.

Sehnsucht nach Sicherheit

George W. Bush ruft den Notzustand und den «Krieg gegen den Terror » aus, etabliert den «USA Patriot Act». Regierungen auf der ganzen Welt erlassen neue Gesetze zur Terrorismusbekämpfung, die häufig im Spannungsverhältnis zwischen individueller Freiheit und kollektiver Sicherheit liegen. Zwar fordern Terroranschläge weniger Tote als Kriege, versetzen aber charakteristischerweise eine liberale Gesellschaft dauerhaft in Angst und Schrecken. Um ihr Gefühl für mehr Sicherheit zu erhöhen, ist oft eine Mehrheit einer demokratischen Gesellschaft bereit, ihre eigene Freiheit und Privatsphäre zu beschneiden. Viele Massnahmen der Terrorbekämpfung sind seit der damaligen Anschläge in Kraft geblieben. 9/11 hat weltweit zu einer Normalisierung des Ausnahmezustands geführt.

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Überwachung hat Tradition

Auch in der Schweiz ist nach den Anschlägen von 9/11 ein Mehr an Überwachung festzustellen. Überwachung ist aber weder eine Neuheit, noch war sie stets auf terroristische Aktivitäten ausgerichtet. Anfang der 1930er-Jahre legt die Zürcher Stadtpolizei ein Homosexuellen-Register an. Es abzuschaffen, steht lange Zeit an oberster Stelle im Kampf gegen die Diskriminierung von Schwulen und Lesben. Ende der 1970er-Jahre fordern die Homosexuellen Arbeitsgruppen Zürich den Polizeivorstand offiziell auf, das polizeiliche Homosexuellen-Register abzuschaffen und zu vernichten. 1979 wird die Forderung umgesetzt. Bern und Basel folgen mit der Vernichtung ihrer Register.

Aus Furcht, kommunistisch unterwandert zu werden, überwacht und bespitzelt die Bundespolizei im Kalten Krieg Personen und Organisationen in der Schweiz. So kommen 900 000 Überwachungsakten zusammen. Zwei Drittel dieser «Fichen» betreffen Ausländerinnen und Ausländer. Der Rest bezieht sich rund zur Hälfte auf Personen, zur anderen Hälfte auf Organisationen und Ereignisse. Der «Fichen-Skandal» wird 1989 publik und löst in der Schweiz eine grosse Debatte über die staatliche Überwachung aus.

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Die massive Empörung in der Schweiz über Fichen ist jedoch bald verpufft, gut 30 Jahre danach erinnern sich nur noch wenige an den grössten Schweizer Überwachungs-Skandal. Denn unbeobachtet leben zu können, ist zwar der Inbegriff für Privatsphäre und Freiheit. Doch die Vorstellungen davon, wer im Namen der staatlichen Sicherheit überwacht werden soll, verändern sich stets. 2018 stimmt die Schweizer Stimmbevölkerung mit grosser Mehrheit der Überwachung von Sozialhilfeempfängerinnen und -empfägern zu, die unter Verdacht stehen, sich Leistungen zu erschleichen.

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Zwei Frauen in Schwarz, jene rechts trägt ein T-Shirt mit grossem Auge drauf

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Sozialdetektive: Es darf wieder gefilmt werden

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Die Schweizer Stimmbevölkerung nimmt 2016 das Nachrichtendienstgesetz an und 2021 das umstrittene Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus.  Damit verfügt die Schweiz über eines der härtesten Anti-Terror-Gesetze weltweit. Damit werde die Schweiz für autoritäre Regimes zum Vorbild, sagt die UNO-Sonderbeauftragte für Menschenrechte.

Der Aufstieg des Überwachungskapitalismus nach 9/11

Das Verhalten der Mehrheitsgesellschaft wird vor allem digital überwacht – aus kommerziellen Gründen. Je mehr eine Firma über eine Person weiss, desto genauer kann sie Werbebotschaften auf sie massschneidern. Einige der erfolgreichsten Firmen der Gegenwart sind Datenfirmen. Sie befinden sich nahezu ausschliesslich in den USA und in China: Bekannt sind Google, Facebook, Amazon, Alibaba und Tencent. Das Geschäftsmodell dieser Firmen liegt im Wesentlichen darin, zielgenau auf Personen zugeschnittene Werbung zu ermöglichen. Dafür sammeln sie Daten, die sie für Marketingfirmen nutzbar machen.

Die emeritierte Ökonomie-Professorin Shoshana Zuboff ist eine der wenigen Stimmen in den USA, die seit Jahren vor der Marktmacht und Arroganz der Silicon-Valley-Firmen warnen. Sie zeichnet das düstere Bild einer Digitalwirtschaft, in der Menschen Quelle eines kostenlosen Rohstoffs sind und als Lieferanten von Verhaltensdaten fungieren. Beim «Überwachungskapitalismus» handle es sich um eine Mutation des modernen Kapitalismus. Dieser zeichne sich durch eine beispiellose Konzentration von Reichtum, Wissen und Macht aus.

Überwachungskamera in einem Bus.
Gehören heute zum Alltag: Überwachungskamera in einem Bus im Kanton Zug. Keystone / Gaetan Bally

«Google war der Pionier des Überwachungskapitalismus», schreibt Zuboff in ihrem 2018 erschienen Buch. Die Internetfirma habe zudem von den Wendungen der Geschichte profitiert. Ihr Wachstum ging mit dem Aufbau des nationales Sicherheitsapparats der USA nach 9/11 einher, der sich Google und seiner Methodik bedient habe, um Menschen online zu überwachen. In dieser Zeit hat sich gemäss Zuboff «die DNA des Überwachungskapitalismus» entwickelt.

Interessanterweise stören sich wenige an der digitalen Erfassung persönlicher Daten. Oder sie erliegen dem verbreiteten Privatsphäre-Paradox: Wir wollen unsere Daten und Privatsphäre schützen, ausser wenn es etwas gratis gibt. Der Soziologe David Lyon spricht von einer regelrechten Kultur der Überwachung, die unseren Alltag bestimmt: Supermarkt-Treuekarten, omnipräsente Überwachungskameras im öffentlichen Raum, Sicherheitschecks an Flughäfen und Sportstadien. Seit 9/11 haben sich durch mediale Bilder Ängste verstärkt. Nun ist ein Seilziehen entstanden zwischen sicherheitspolitischen Bestrebungen einerseits und dem Kampf für Bürgerrechte und Privatsphäre andererseits.

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Obwohl man in den USA über Europa spottet, das keine grossen Technologiekonzerne hervorbringe und vor allem an Datenschutz denke, obwohl in China auf noch skrupellosere Weise Daten gesammelt werden, spielt die Europäische Union mit dem «Recht auf Vergessenwerden» und der Datenschutzverordnung DSGVO eine globale Vorreiterrolle in Sachen Persönlichkeits- und Datenschutz.

Diese Themen spielen auch in der Schweiz eine wichtige Rolle. Das neue Schweizer Nachrichtendienstgesetz ist – ganz im Post-9/11-Geist – klar auf terroristische «Gefährderinnen und Gefährder» ausgelegt. Dennoch muss das schwammig formulierte Gesetz den Praxistest erst noch bestehen: dass das Gesetz tatsächlich nicht instrumentalisiert wird, um gewaltfreie politische Gegnerinnen und Gegner zu überwachen und zu verfolgen, wie dies Menschenrechts-Organisationen im Vorfeld der Abstimmung befürchtet haben. In Diktaturen ist das eine beliebte Masche: Regime-Kritikern und Dissidentinnen terroristische Aktivitäten vorzuwerfen und sie mit allen Mitteln zu überwachen. Die im Rahmen des aktuellen Pegasus-Skandals enthüllte Spionage-Software auf zahlreichen Smartphones zeugt davon.

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