«Die filmische Vielfalt ist eine Waffe gegen Intoleranz»
Das Internationale Filmfestival Freiburg feiert sein 30-jähriges Bestehen. War es früher noch eher "globalisierungskritisch", wurde es in den letzten Jahren immer mehr zu einem Treffpunkt für Filmliebhaber. Trotzdem konnte es seine starke soziale Identität behalten. Dies auch dank der Arbeit von Thierry Jobin, ehemaliger Journalist und heutiger künstlerischer Leiter des FIFF.
swissinfo.ch: Vor fünf Jahren übernahmen Sie die Leitung des Filmfestivals Freiburg, mit dem Ziel, das Image eines etwas globalisierungskritischen Treffens, einer Woche des «guten Gewissens», wie Sie es nannten, zu ändern. Wie sehen Sie die heutige Identität des Festivals?
Thierry Jobin: Es gibt einen grundlegenden Aspekt des FIFF, der sich über all die Jahre hinweg nicht geändert hat: der Wille, die Vielfalt in ein filmisches Angebot einzubringen. Dieses ist erheblich beschränkt, da es auf das amerikanische Monopol praktisch keine Gegenstrategie gibt. Es ist nicht normal, dass drei Viertel der Schweizer Kinoleinwände mit Filmen wie «Star Wars» und «James Bond» besetzt sind, wie das vor Weihnachten letzten Jahres der Fall war. Tut man nichts dagegen, so öffnet man der Unkenntnis über andere Kulturen die Tür und Tor. Mangel an Wissen führt zu Angst und Angst zu Intoleranz.
Das Festival von Freiburg hat also eine Verantwortung, die nicht zwingend globalisierungskritisch ist. Meiner Ansicht nach ist es übrigens eine Rolle, die alle Festivals spielen sollten, denn es sind öffentliche Gelder im Spiel. Dieser Aspekt der Identität des FIFF hat sich über all die Jahre hinweg nicht verändert.
Ich kann aber auch nicht 120 Filme rein aufgrund ihres Inhalts auswählen, auch wenn sie eine wichtige Botschaft haben, wie etwa den Kampf gegen sexuelle Beschneidung oder Zwangsheirat. Ein Film muss gut gemacht und «nötig» sein, das ist mein Credo. Dieser Pfad wurde bereits durch meinen Vorgänger, Edouard Waintrop, eingeleitet und markierte einen Bruch in Bezug auf die zwanzig vorangegangenen Jahre.
swissinfo.ch: Heute zeigt das FIFF nicht mehr nur Filme des «Südens», sondern auch Werke aus Ländern, die näher liegen. Weshalb?
T.J.: Die Situation hat sich ziemlich schlimm entwickelt. Heute ist es ebenso schwierig geworden, in der Schweiz einen spanischen, deutschen oder englischen Film zu schauen, abgesehen von einigen grossen Namen wie Pedro Almodovar, Mike Lee oder Wim Wenders, wie Filme des Süden vor zwanzig Jahren. Natürlich richtet das FIFF seinen Blick noch immer auf Afrika, Asien und Lateinamerika; es muss aber auch die Vielfalt des europäischen Filmschaffens zeigen.
swissinfo.ch: Sehr wenige Filme, die in Freiburg gezeigt werden, kommen nachher in die Kinosäle. Ist das nicht etwas problematisch?
T.J.: Im Gegenteil! Es wäre sehr viel einfacher, zu einem Verleiher zu gehen, ihn um die Liste der Filme zu ersuchen, die in der Schweiz herauskommen, und sie dann als Premiere zu zeigen. So läuft das übrigens in anderen Festivals der Schweiz. Das FIFF aber muss weiterhin Filme zeigen, die es oft nicht in die Kinosäle schaffen.
swissinfo.ch: Schon, aber die Festivals könnten doch als Sprungbrett dienen, so dass die Filme nachher ins Kino kommen und so einem breiteren Publikum zugänglich sind?
T.J.: Sicher, ausser dass die Verleiher Ihnen sagen werden, dass niemand diese Filme sehen will, wenn sie im normalen Programm laufen.
swissinfo.ch: Wieso?
T.J.: Ich glaube, das steht im Zusammenhang mit einem Überangebot an Informationen. Früher war es schwierig, an gewisse Filme heranzukommen, man musste warten, bis ein Kino sie zeigte oder sie als DVD herauskamen. Heute findet man die Filme innert drei Minuten im Internet.
Das Publikum ist aber angesichts des immensen Angebots oft verloren; es braucht jemanden, der ihm den Weg zeigt und eine Auswahl trifft. Auch dazu ist das Festival da.
Seit ich 2012 die Leitung des FIFF übernahm, konnte ich drei oder vier Mal einen Verleiher davon überzeugen, einen der Filme zu zeigen, die ich ausgewählt habe. Denn sie sind nicht rentabel! Nehmen wir einen Film, der den Publikumspreis erhalten hat und 1200 Eintritte verbuchte. In einem so kleinen Markt wie der Schweiz haben die nicht viel Spielraum. Das ist ein toter Film von Beginn weg.
Hinzu kommt, dass es in diesem Land keine Unterstützung für eine Vielfalt im Filmschaffen gibt. Anderswo ist es ähnlich, denn die Formel wurde noch nicht gefunden.
Immer wieder denke ich an die Idee, die Nicolas Bideau hatte, als er für die Sektion Film verantwortlich war: die Einführung eines «Verursacher-Prinzips»: Wenn ein Studio mit 80 James-Bond-Kopien daherkommt, muss es ab der Zwanzigsten eine Steuer zahlen, um den Vertrieb weniger bekannter Filme zu unterstützen. Diese Idee blieb unbeachtet.
swissinfo.ch: Die 30. Ausgabe des FIFF widmen Sie den Frauen. Muss man noch über den Platz der Frauen im Kino sprechen?
T.J.: Sicher, auch wenn es einige Fortschritte gab. Als wir das Festival vorbereiteten, kam es zu einer äusserst bizarren Situation. Einige Frauen schnauzten uns an, andere fanden die Idee super. Einerseits sollte man das Macho-Gehabe bekämpfen, auf der anderen Seite sind die Frauen unter sich uneinig.
Als Kathryn Bigelow 2010 einen Oscar als beste Regisseurin erhielt («The Hurt Locker»), als bislang erste Frau überhaupt, sagten zahlreiche amerikanische Feministinnen: ‹Es ist keine Frau, die gewonnen hat, denn es handelt sich um einen Kriegsfilm.› Schon hier gibt es ein Problem.
Und dann gibt es jene, die denken, die Goldene Palme von Cannes für Jane Campion im Jahr 1993 sei genug… es sollte aber immer solche Auszeichnungen geben!
Vielleicht sollte man ein Quoten-System einführen, wie in Kanada, wo der neue Premierminister Justin Trudeau beschlossen hat, dass die Gelder zur Finanzierung von Filmen zu 50% an Frauen und zu 50% an Männer gehen.
Kurz: Ja, man muss noch immer über den Platz der Frau im Kino reden, wie man auch über den Platz der Frau in der Gesellschaft reden muss.
In der Vergangenheit hat das Filmfestival Freiburg nur Filme von weither gezeigt. Heute jedoch versuchen wir, dem Publikum zu zeigen, dass die Situation auch in Europa oder der Schweiz schrecklich ist.
swissinfo.ch: Und wie steht es um die Frauen im Schweizer Kino?
T.J.: Es ist wie anderswo. Es gibt eine kleine Irreführung in den Statistiken: Man sagt, es gebe 30% Frauen im Schweizer Filmschaffen, aber dazu zählt man auch die Drehbuchautorinnen. Zudem erhalten die Frauen von Seiten der Eidgenossenschaft weniger Geld für ihre Filme. Vielleicht hat das teils mit der Art der Filme zu tun, denn die Männer bleiben länger kleine Jungs und machen manchmal Filme mit vielen Spezialeffekten.
Aber ich glaube nicht, dass das der einzige Grund ist. Diese Ungleichheit findet sich auch auf internationalem Niveau. Einer der Gründe dafür ist, dass Filme von Frauen finanziell weniger einbringen. Es sind also viele Klischees, die es zu entkräften gilt.
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(Übertragung aus dem Italienischen: Gaby Ochsenbein)
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