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Adolf Wölflis Weltentwurf

Adolf Wölfli mit einer Papiertrompete, 1926.

Der Künstler Adolf Wölfli, der Jahrzehnte in der Psychiatrischen Klinik Waldau in Bern verbrachte, schuf eines der eindrücklichsten Gesamtwerke des 20. Jahrhunderts.

Das Kunstmuseum Bern widmet dem Emmentaler eine Retrospektive: Sie zeigt die Radikalität seines Schaffens und die Analogien zur avantgardistischen Kunst dieser Zeit auf.

Einer Kindheit, die vom Tod der Mutter und den Demütigungen als Verdingbub geprägt ist, folgen Zuchthaus, die Diagnose Schizophrenie (ist heute umstritten) und ein langer Aufenthalt in der Irrenanstalt.

In Adolf Wölflis Leben schien nichts auf eine Karriere als Künstler hinzuweisen. Ganze 35 Jahre verbrachte Wölfli in der Psychiatrischen Klinik Waldau in Bern.

In dieser Zeit schufen sein Geist und seine Hände ein aussergewöhnliches Gesamtkunstwerk. Vielleicht eines der wichtigsten des 20. Jahrhunderts, wie der Surrealist André Breton sagte.

Von der Klinik in die Museen

Mit seinen über 25’000 Seiten mit Texten, Zeichnungen, Collagen und Lautgebilden wurde Wölfli nach dem 2. Weltkrieg zum wichtigsten Exponenten der so genannten «Art brut». Später öffneten ihm auch weltweit zahlreiche Museen die Türen.

Unterstützung fand Wölfli vom Psychiater Walter Morgenthaler, der ab 1907 in der Waldau arbeitete. Er förderte und sammelte Wölflis Schaffen und widmete ihm 1921 die Monografie «Ein Geisteskranker als Künstler: Adolf Wölfli».

In der Nachkriegszeit wurde der Künstler von Jean Dubuffet wiederentdeckt, der sich für die «Art brut» engagierte.

1972 stellte der Schweizer Kurator Harald Szeemann Wölflis Werke an der documenta 5 in Kassel aus. Szeemann machte damit den Künstler Wölfli zum ersten Mal einem internationalen Publikum zugänglich – und löste sein Werk aus dem psychiatrischen Kontext.

«Es gibt Kunstwerke, die von Menschen in extremen Lebenssituationen geschaffen wurden», sagt Daniel Baumann, Kurator der Adolf Wölfli-Stiftung in Bern. «Es gibt jedoch keine Kunst von Geisteskranken. Kunst ist Kunst – das zeigt auch Wölfli.»

Wölflis Riesen-Schöpfung

Darüber besteht für die Besucher der Retrospektive mit dem Titel «Adolf Wölfli Universum» im Kunstmuseum Bern kein Zweifel. Die Ausstellung führt chronologisch durch Wölflis Weltentwurf. Sie erlaubt ein Eintauchen in Wölflis Welt, eine Reise in ein vielfältiges Universum von grosser Radikaliät.

«Wie andere Künstler saugte Wölfli wie ein Schwamm alle Anreize aus seiner Umgebung auf und übersetzte sie in seine eigene Sprache», sagt Baumann. Eine Sprache aus Ornament (gemäss Baumann ein Element der Sicherheit) und Text (Element der Gefahr).

Wölfli sammelte Inputs aus Zeitschriften, Büchern, Atlanten, Karten, Reiseberichten und verwendete sie für sein riesiges Projekt: den Entwurf einer Gegenwelt.

Er war Zeichner, Schriftsteller und Komponist im Dienste seiner obsessiven Mission: Auf den in der psychiatrischen Klinik bis zu seinem Tod gefüllten Seiten hat er sein Leben neu erfunden. Zuerst in Form einer spektakulären Kindheit, dann als glorreiche Zukunft, von ihm «St. Adolf Riesen-Schöfung» genannt. Es ist eine Flucht aus einer schwierigen Existenz in ein neues Universum.

Spiegel der Welt

In Wölflis Universum, das in seiner Zelle in der psychiatrischen Klinik entstanden ist, widerhallen die Stimmen, Töne und Sorgen seiner Epoche. Die Flucht wird schliesslich zu einer Reise, die in die Welt zurückführt, sie widerspiegelt sowie versteckte und beängstigende Wahrheiten aufdeckt.

Es erstaunt deshalb nicht, zu sehen, wie nah Wölflis Werke der künstlerischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts sind.

Ein eindrückliches Beispiel ist das Bild «Campell’s Tomato Soup», das in den 1960er-Jahren durch Andy Warhol bekannt wurde. Wölfli hatte diese Dose bereits 1929 in einer Collage verwendet.

«Wie zahlreiche andere Künstler des 20. Jahrhunderts hatte auch Wölfli allgemein eine grosses Interesse für die Kraft der Bilder», sagt Baumann.

Wölflis Werk bleibt geheimnisvoll und irritierend. Wölfli, der sich in jungen Jahren als Knecht und Handlanger durchschlug und keinerlei Zugang zur Universität hatte, kann sich heute mit den grossen Künstlern des 20. Jahrhunderts messen.

«Es wurde ein systematischer Diskurs über die Kunstgeschichte erarbeitet und die Eigenschaften des Dadaismus und des Surrealismus definiert. Wölfli wirft alle diese Theorien über den Haufen und stellt die Frage: ‹Was ist Kunst?'», sagt Baumann.

swissinfo, Andrea Tognina
(Übersetzung aus dem Italienischen: Corinne Buchser)

Die Retrospektive «Adolf Wölfli Universum» ist bis am 10. Mai 2008 im Kunstmuseum in Bern zu sehen.

Gleichzeitig werden in der Ausstellung «Der Himmel ist blau» Werke aus der Kollektion des Schweizer Psychiaters Walter Morgenthaler gezeigt.

Adolf Wölfli ist am 29. Februar 1864 in Bowil im Emmental geboren. Er wächst in bitterer Armut auf. Der Vater verlässt die Familie gegen 1870, die Mutter stirbt 1874. Adolf wächst als Verdingbub auf.

1890 wird Wölfli wegen versuchter Notzucht zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. Als er 1895 erneut wegen versuchter Notzucht verurteilt wird, wird er in die psychiatrische Klinik Waldau in Bern eingewiesen. Dort wird ihm Schizophrenie diagnostiziert.

In der Klinik beginnt er zu zeichnen (die ersten erhaltenen Zeichnungen stammen aus den Jahren 1904/1905). Der Psychiater Walter Morgenthaler, der von 1907 bis 1920 in der Waldau arbeitet, unterstützt Wölflis Schaffen.

Von 1909 beginnt Wölfli mit seiner fiktiven Autobiographie «Von der Wiege bis zum Graab» (rund 3000 Seiten), die er im Jahr 1912 beendet.

Von 1912 bis 1916 arbeitet er an «Geographische und Allgebräische Hefte» (5000 Seiten), in denen er die Geburt «St. Adolf Riesen-Schöpfung» beschreibt.

Zwischen 1917 und 1922 realisiert Wölfli «Hefte mit Liedern und Tänzen» (rund 7000 Seiten). In den folgenden Jahren arbeitet er an «Allbumm-Hefte mit Tänzen und Märschen» (5000 Seiten) und «Trauer-Marsch» (rund 8000 Seiten).

Wölfli stirbt am 6. November 1930 an Magenkrebs.

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