Ägyptens Literatur als Seismograph der Gesellschaft
Mit ihrer Kritik am Regime und dem Aufbrechen von Tabus hätten ägyptische Autoren die Bereitschaft für eine Revolte massgeblich genährt, sagt die Autorin Susanne Schanda. Dies in einem Land, wo 30 Prozent der Bevölkerung weder lesen noch schreiben können.
«Literatur ist keine Waffe, aber sie kann langfristig Veränderungen in der Gesellschaft bewirken», sagt die Schweizer Journalistin, die eben ihr erstes Buch mit dem Titel «Literatur der Rebellion» veröffentlicht hat.
swissinfo.ch: Im Januar 2011 ist in Ägypten eine Revolte gegen das Regime Mubaraks ausgebrochen. Inwieweit haben Schriftsteller mit ihren Büchern zu diesem Aufstand beigetragen?
Susanne Schanda: Sie waren einerseits als Staatsbürger auf der Strasse, die für Demokratie demonstrierten. Aber sie waren schon in den Jahren zuvor sehr präsent mit ihren Büchern, die eine neue, eine kritische Art Schreiben zum Ausdruck brachten. Man merkte, dass es in der Gesellschaft brodelte. Und ich denke, die Literatur hat dazu beigetragen, die Leute bereit zu machen, um sich gegen dieses Regime und die Unterdrückung aufzulehnen.
Geschichten, in denen Personen sich wehren oder wo sich neue Perspektiven auftun, können bewirken, dass das Selbstbewusstsein der Leute gestärkt wird und sie nicht immer zu allem ja sagen, sondern dass ein gewisser kreativer Widerstand wächst.
swissinfo.ch: Welches waren die grossen Themen der ägyptischen Literatur in den letzten zehn Jahren?
S.S.: Einerseits geht es um Korruption in der Gesellschaft, um Filz in Wirtschaft und Politik, um Machtmissbrauch. Auch Armut ist immer noch ein Thema, das kennt man bereits aus den Büchern von Literaturnobelpreisträger Nagib Machfus. Thematisiert wird auch die teils durch Armut bedingte verratene Liebe, dass Leute vielleicht nicht ihre grosse Liebe ausleben können, weil sie wegen ihrer materiellen Lage gezwungen sind, jemanden zu heiraten, der den Lebensunterhalt sichern kann.
Sie ist in den Niederlanden geboren und in Bern aufgewachsen.
1989 schloss sie an der Universität Bern ihr Studium der Germanistik und Philosophie ab.
Die freie Journalistin beschäftigt sich seit über 15 Jahren mit dem Nahen Osten.
Sie arbeitet als freie Mitarbeiterin für die Neue Zürcher Zeitung, NZZ am Sonntag, Schweizer Radio SRF2, die Berner Zeitung und swissinfo.ch.
Ihr Buch Literatur der Rebellion – Ägyptens Schriftsteller erzählen vom Umbruch – ist im April 2013 im Rotpunktverlag erschienen. Das Buch soll noch in diesem Jahr ins Arabische übersetzt werden.
swissinfo.ch: Bücher haben beim Umbruch also eine zentrale Bedeutung. Heisst das jetzt, dass die ägyptische Bevölkerung gerne und viel liest und Literatur mehr ist als geistige Nahrung für Intellektuelle?
S.S.: Insgesamt muss man sagen, dass in der ägyptischen Bevölkerung mit einer Analphabetenrate von 30 Prozent nicht so viel gelesen wird wie bei uns. Das Leseverhalten hat sich aber in den letzten Jahren stark verändert. Vorher war die Literatur tatsächlich eine Angelegenheit für Uniprofessoren, Akademiker und Literaten.
Seit zehn Jahren gibt es nun auch leichter verständliche Unterhaltungs-Literatur wie Krimis oder Erlebnisbücher, die näher am Alltag sind. Sie ist nicht immer hochliterarisch, bringt aber vermehrt auch junge Leute dazu, zu einem Buch zu greifen.
swissinfo.ch: Wie frei waren die Autoren in den 30 Jahren unter Hosni Mubarak?
S.S.: Die Schriftsteller waren unter den früheren Regimes von Nasser und Sadat viel mehr unter Druck als unter Mubarak. Und zwar weil diese Regimes die Linken massiv bekämpft haben, zu denen die Schriftsteller ja meistens gehören. Damals wurden viele ins Exil getrieben oder landeten im Gefängnis.
Unter Mubarak hat sich das etwas aufgeweicht, auch weil Literatur gar nicht ernst genommen wurde. Die Autoren konnten mehr oder weniger schreiben, was sie wollten und mussten ihre Bücher keiner Zensurbehörde vorweisen.
Der Druck erfolgte eher indirekt, die Schriftsteller landeten unter einem Vorwand im Gefängnis. Wenn religiöse Kreise fanden, in einem Buch gehe es um Erotik oder Gott werde lächerlich gemacht, dann konnten sie bei der Regierung durchsetzen, dass das Buch verboten wurde.
swissinfo.ch: Seit dem Wahlerfolg der Islamisten von 2012 ist der Muslimbruder Mohamed Mursi Präsident. Ist literarisches Schaffen schwieriger geworden?
S.S.: Man hat das Gefühl, dass sich die Lage verschärft hat. Aber man muss auch sagen, dass jetzt viel mehr geschrieben, debattiert und kritisiert wird. Deshalb gibt es auch mehr Zensur und Prozesse gegen Schriftsteller, aber auch gegen Schauspieler und Filme.
Es gibt diesen berühmten Fall des Fernsehkomikers Bassem Youssef, der sich bei einem Privatsender über Präsident Mursi lustig macht und ihn als Trottel darstellt. Mursi kann es sich aber nicht leisten, diesen Sender zu schliessen, da die ganze Welt auf Ägypten schaut. Die Muslimbrüder können nicht zu stark eingreifen, da sie behaupten, sie würden die Revolution vollenden und Demokratie einführen.
swissinfo.ch: Die Schriftsteller sind also mutiger geworden, die Meinungs- und Redefreiheit erstarkt. Ist die Schriftstellerzunft zwei Jahre nach Beginn der Revolte in Hochform?
S.S.: Das Selbstvertrauen hat sicher zugenommen. Dass Mubarak mit dem Aufstand zum Rücktritt gezwungen werden konnte, hat eine ungeheure Euphorie ausgelöst. Die ist aber seither ziemlich verflogen, weil nichts daraus geworden ist und alle etwas ratlos dastehen. Viele sagen, man könne nicht von heute auf morgen Demokratie einführen, was ja auch stimmt. Die Stimmung ist gemischt: Es gibt zwar immer noch Hoffnung, Resignation und Enttäuschung sind aber vorherrschend.
Ägypten zählt laut dem Arab Social Media Report 2012 11,3 Mio. Facebook-Benutzer.
38% der gut 80 Millionen Einwohner Ägyptens nutzen das Internet.
30% der Bevölkerung sind Analphabeten.
swissinfo.ch: Ohne neue Kommunikationsmittel und soziale Medien hätte diese Revolte kaum stattgefunden. Sind seither neue Schreib- und Stilformen entstanden?
S.S.: Bereits vor fünf Jahren hat diese Social-Media-, diese Twittersprache, in der Literatur Eingang gefunden. So werden etwa Dialoge in diesem Slang-Stil verfasst, mit englischen Wörtern und Modeausdrücken. Seit neuerem gibt es Romane, die ursprünglich als Blogs entstanden sind – Blogger wurden also zu Schriftstellern.
Ziemlich jung ist auch der Comic, der in Ägypten sicher eine grosse Chance hat, da der Zugang über die Zeichnung erleichtert werden kann. Zu beobachten ist auch eine Zunahme von Graffitis an öffentlichen Wänden.
swissinfo.ch: Ägyptische, oder allgemein arabische Literatur, ist im Westen wenig bekannt. Ist das Interesse seit dem Arabischen Frühling gestiegen?
S.S.: Es hat stark zugenommen, aber schon ein paar Jahre vor dem Umsturz. Mir ist aufgefallen, dass im Revolutionsjahr alleine bei Schweizer Verlagen vier ägyptische Autoren erschienen sind. Auch an den Solothurner Literaturtagen 2012 war arabische Literatur ein Schwerpunkt.
swissinfo.ch: Ist dieses wachsende Interesse im Ausland ein Ansporn für ägyptische Schriftsteller?
S.S.: Einerseits ja, auf der anderen Seite herrscht eine gewisse Skepsis. Ich persönlich verstehe Literatur als Seismograf der Gesellschaft, man kann darin etwas über den Zustand der Gesellschaft ablesen. Es gibt aber ägyptische Schriftsteller, die sich gegen dieses Verständnis wehren und den Europäern vorwerfen, sie würden die Literatur als Geschichtsbücher missbrauchen und das Literarische nicht genug würdigen.
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