Ägyptisch-schweizerischer Blickwechsel im alten Badehaus
Fremde Blicke und Perspektiven beleben zur Zeit den Engadiner Ferienort Scuol. Im Kulturzentrum Nairs, einem ehemaligen Badehaus am Inn, sind Postkarten-Ansichten mit Fallgruben zu sehen.
Die Ausstellung «Actual Position» ist ein schweizerisch-ägyptisches Kunstprojekt über Herkunft und Identität, das seinen Ausgang in Kairo genommen hat – unterstützt von der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia.
Ein überdimensionierter roter Liegestuhl im hintersten Raum des alten Badehauses. Die zwei Fotos an der Wand zeigen den heimischen Morteratsch-Gletscher und die libysche Wüste, je mit einem langen roten Streifen markiert und so zueinander in Beziehung gesetzt: das ist Ralph Hauswirths Installation «Exchange of elements».
Treppauf, gleich neben der Tür zur Terrasse, die Postkarten-Installation der Ägypterin Maha Maamoun, die im Rahmen eines dreimonatigen Stipendiums der Pro Helvetia in Zürich arbeitet.
In idyllische Schweizer Landschaften – darunter das neue Bad in Scuol – hat die Fotografin Szenen ägyptischer Polizeigewalt montiert, wie sie oft bei Strassendemonstrationen zu sehen sind. Auf den in einem Halter steckenden Postkarten fallen sie erst auf den zweiten Blick ins Auge, dafür um so verstörender.
«Seit ich in der Schweiz bin, nehme ich Ägypten nur noch durch Fernsehen, Internet-Blogs und E-Mails wahr», sagt Maha Maamoun gegenüber swissinfo. «Dieses reduzierte Bild kombiniere ich mit den Schweizer Postkarten-Ansichten zu doppelbödigen Bildern, die reflektieren, wo ich gerade bin und wo nicht.»
Die Schweizer Bergwelt hat es der Künstlerin aus der hektischen 16-Millionen-Stadt Kairo besonders angetan: «Raum zum Atmen und Nachdenken.» Gerade habe sie etwas Erstaunliches entdeckt: «In der Schweiz gibt es mehr abstrakte Abbildungen der Pyramiden als in Ägypten. Daraus will ich was machen.»
«Chocolate is always there for you»
Von einer anderen Seite her schaut die Basler Künstlerin Clara Saner in die Welt. Inspiriert von Chatrooms im Internet ist ihre verspielte Animation «Little Pepper». An ein Gewölbe des Hauses projiziert wandern pastellfarbene Nick names wie «Hot sauce» oder «chocolate is always there for you» über die Wand.
«Diese Arbeit hat dem Publikum an der Ausstellung in Kairo besonders gefallen», erzählt die Künstlerin. Vor acht Jahren hat sie während eines Atelieraufenthalts zum ersten Mal am Nil gearbeitet.
Das Thema «Actual Position. Topography and Identity» ist sie global angegangen. «Das Internet spielt eine wichtige Rolle in der interkulturellen Kommunikation», ist Clara Saner überzeugt, die für ihre Projekte Suchmaschinen verwendet hat.
Von Erinnerungen bis zum flimmernden Horizont
Insgesamt neun Künstlerinnen und Künstler aus Ägypten und der Schweiz stellen zur Zeit im Kulturzentrum Nairs Werke aus.
Unter ihnen die seit zwei Jahren in Amsterdam lebende Ägypterin Hala Elkoussy, die eine abgründige Interview-Serie mit Amateurschauspielern als Videoinstallation präsentiert, und ihr Landsmann Mahmoud Khaled, auch er ehemaliger Stipendiat in Zürich, der seine künstlerische Identität anhand von Fotos und Texten reflektiert.
In der zentralen Eingangshalle zeigt das Künstlerpaar Jean Crotti und Jean-Luc Manz aus Lausanne sein persönliches Kairo-Archiv mit Porträts, Fotos und Erinnerungsstücken aus zehn Jahren Leben in Kairo.
Gertrud Genhardt spürt mit ihrer Videoinstallation im von der Sonne aufgeheizten Estrichraum der Horizontlinie «Where do sky and earth touch?» nach, und Hildegard Spielhofer setzt ihre in Kairo begonnenen multimedialen kartografischen Untersuchungen fort.
In der Spannung zwischen Kairo und Scuol
Der Anstoss zum ersten Teil des Projekts «Actual Position», das im Dezember 2005 in Kairo gezeigt wurde, ist von Gertrud Genhardt und Ralph Hauswirth ausgegangen, damals Stipendiaten in der ägyptischen Hauptstadt. Die Basler Kuratorin Helen Hirsch übernahm die künstlerische Leitung und entwickelte das Projekt weiter.
«‹Actual Position› ist ein Begriff aus der Fliegersprache und bezeichnet die Position eines Gegenstandes im Raum», erklärt Helen Hirsch gegenüber swissinfo. «Für die Fortsetzung des Projekts suchte ich einen Ort, der in starkem Kontrast zur Millionenstadt Kairo steht, und bin auf Scuol mit seiner speziellen Aura gekommen.»
Christof Rösch, Kurator im Kulturzentrum am Inn und daneben als Bildhauer in mehrere architektonische Projekte der Region verwickelt, hat im ehemaligen Badehaus schon einiges erlebt. 1991 war er selbst Stipendiat und hat als Bildhauer im Keller gearbeitet.
«Ohne die intensive Zeit damals in diesem Haus wäre ich heute wohl nicht im Engadin ansässig», sagt der in Baden im Kanton Aargau aufgewachsene Rösch.
Erfolgreich übt sich der Kurator in der Gratwanderung zwischen regionalen Themen und einem internationalen Kunstanspruch. Gerade in der aktuellen Ausstellung, die auf vielfältige Weise die eigene Orientierung und Positionierung im Raum beleuchtet. Im Hintergrund das Rauschen des Inns, selbst beim Blick in die endlose Wüste.
swissinfo, Susanne Schanda, Scuol
Vor rund 20 Jahren kaufte die Zürcher Kulturstiftung Binz 39 (Henry Levy) das ehemalige Badehaus des Hotels Scuol-Tarasp und stellte es als Atelierhaus für Künstler zur Verfügung.
Seit 1999 leitet der Bildhauer Christof Rösch das Kulturzentrum als Kurator.
Mit der Gründung der Stiftung Nairs Ende 2005 sichern die Verantwortlichen dem internationalen Künstlerhaus und Kulturzentrum eine breit abgestützte Trägerschaft für die Zukunft. Das Haus erhielt sie von Levy geschenkt.
Das Kulturzentrum Nairs arbeitet mit einem Jahresbudget von 200’000 Franken. 25% davon trägt der Kanton Graubünden, 15% die Region Unterengadin, der Rest kommt von Kunststiftungen, Pro Helvetia und anderen Förderern.
Die Ausstellung im Kulturzentrum Nairs in Scuol dauert bis 6. August 2006.
Sie präsentiert die Fortsetzung des ägyptisch-schweizerischen Kunstprojekts «Actual Position» über Topographie und Identität, das im Dezember 2005 in Kairo entstand.
Am 1. und 2. Juli findet zum Thema ein Workshop mit internationalen Gästen statt, unter ihnen Abdellah Karroum, Kurator der Biennale DAK’ART 06.
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