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Alberto Nessi: Die Faszination der Peripherie ist verloren gegangen

Der 61-jährige Alberto Nessi hat nach dem Lizenziat in italienischer Literatur an der Universität Freiburg an den Tessiner Mittelschulen unterrichtet und ist heute einer der repräsentativsten Schriftsteller und Dichter der italienischen Schweiz. Sein Werk erzählt vom Denken und Fühlen einfacher Leute und schildert ihren Alltag mit feinem Gespür für all seine Schattierungen.

Als Junge zeichnete ich Sujets aus der Peripherie: Fabriken am Stadtrand, und den Rauch ihrer Kamine, der sich im Himmel verlor. Die Zeichen eines Lebens zu suchen, das sich in einem Zustand der Gefährdung, der Schwebe und der Metamorphose befindet, faszinierte mich.

Damals war die Peripherie ein Ort der Entdeckungen. Dort konnte ein Bagger durchaus reden und weinen, wie im berühmten Gedicht von Pasolini. Und jeder hatte eine Geschichte zu erzählen: der Arbeiter auf dem Heimweg, Leute, die im Schatten der Platanen Boccia spielten, die Frau unter der Strassenlampe.

In jenem Niemandsland verbarg sich das Unbekannte und Intensive, auch das Mädchen vom Schiessstand, das mit den Zigeunern im Wohnwagen gekommen war. Dorthin, ins Maggia-Delta jenseits der letzten Häuser von Locarno, zog es uns auch als Studenten auf unseren harmlosen Eskapaden.

Meine Liebe für die Poesie entstand wohl an dieser Peripherie. Das Zentrum gehörte dem Öffentlichen und Offiziellen, der Macht, den Professoren. Ich suchte die Dinge abseits vom Weg, jene, die so vieles gleichzeitig sein können, die ein Geheimnis bergen.

Doch heute gibt es dort nichts Geheimnisvolles mehr. Im Tessin werden die Zigeuner am Stadtrand mit Steinen beworfen, und die Dörfer sehen sich alle gleich. Im Tal, in dem ich wohne, schreiben die Jugendlichen Viva il rally auf den Asphalt, und ihr Slogan lautet Träume nicht, steig aufs Motorrad! Das heisst, man hat ihnen diesen Slogan vielmehr aufgedrängt, und sie haben sich hilflos Gewalt antun lassen.

Vor ein paar Jahren, als ich an der Peripherie von Chiasso auf der Suche nach dem Geheimnisvollen spazieren ging, wurde ich von einem Grenzwächter angehalten: Was hat denn ein Mann zu Fuss in dieser Grenzzone verloren?

In meiner Umgebung wohnt heute an der Peripherie die Feindseligkeit. Jene Feindseligkeit, die wir dem Fremden entgegenbringen, wenn er die Grenzen heimlich überschreitet. Das «Unbekannte», das ich in meiner Jugend gesucht habe, ist heute anderswo zu finden: in den Augen der Einwanderer, die ferne Wüsten und Meere gesehen haben, im kleinen Jungen aus Sierra Leone, der neben mir wohnt, in den Erlebnissen der Frau aus dem Iran, die ihre Heimat verlassen musste, in der Geschichte von Karuna, dem Flüchtling aus Sri Lanka, der in einer Fabrik im Mendrisiotto arbeitet, in den Gesichtszügen des bosnischen Mädchens Alma, das vor dem Krieg geflohen ist und nun mit meiner Tochter zur Schule geht. Die neue Peripherie sind sie. Sie sind es, die Geschichten zu erzählen haben. Doch in diesen Geschichten spiegelt sich nicht mehr die Poesie des Geheimnisvollen, sondern das Drama der Entwurzelung.

Alberto Nessi

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