Der Regisseur, der Saisonniers eine Stimme gab
Mit dem politischen Dokumentarfilm "Siamo italiani - Die Italiener" hat der Regisseur Alexander J. Seiler 1964 den Neuen Schweizer Film mitbegründet. Erstmals kamen Ausländer in einem Kinofilm zu Wort. Am Wochenende erhielt Seiler im Rahmen des Schweizer Filmpreises 2014 den Ehrenpreis für sein Lebenswerk. swissinfo.ch hat den mittlerweile 86-Jährigen getroffen.
«Einen Dokumentarfilm zu drehen, bedeutete für uns, Randbereiche der Gesellschaft auszuleuchten und den jeweiligen Personen eine Stimme zu geben. Bei einem Dokumentarfilm handelt es sich um ein Dokument, wie schon der Name sagt. Wir waren von einem sozialen und politischen Impuls getrieben, ein anderes Gesicht der Schweiz zu zeigen.»
So spricht der Schweizer Filmregisseur Alexander J. Seiler. Wir treffen ihn in seiner Wohnung mitten in einem Arbeiterviertel von Zürich. Er ist offen, gelegentlich provoziert er. Aber er wägt jedes Wort genau ab. Manchmal schimmert seine Leidenschaft durch, die ihn 40 Jahre lang in seinem Berufsleben getrieben hat. Er war nicht nur Regisseur, Autor und Produzent, sondern hat auch für die Anerkennung und Förderung des Schweizer Filmschaffens gekämpft.
Filme für die geistige Landesverteidigung
Alexander J. Seiler, 1928 in Zürich geboren, kam Anfang der 1960er-Jahre zum Film. Im Auftrag der Schweizerischen Verkehrszentrale realisiert er den Kurzfilm «Im wechselnden Gefälle», der 1963 in Cannes die Goldene Palme in der Sektion Kurzfilme erhielt.
Trotz dieser Auszeichnung waren Seiler und sein Kameramann Rob Gnant, mit dem er häufig zusammenarbeitete, nicht zufrieden. Sie wollten eine andere Art Film machen, Filme, in denen sich die Mythen der Schweiz mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit konfrontieren.
Max Frisch
Ein kleines Herrenvolk sieht sich in Gefahr: man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen
Damals gab es in der Schweiz noch kein industrielles Filmschaffen. Während der Nachkriegszeit sah die Kunst ihre Mission noch in einer «geistigen Landesverteidigung». Es ging darum, die Schweizer Werte angesichts der «kommunistischen Bedrohung» zu fördern. «Man sprach von perfekter Demokratie und nationaler Einheit, aber nicht von den Problemen der Leute», sagt Seiler.
Das Jahr 1964 wurde dann zum Wendepunkt. Aus Anlass der Schweizerischen Landesausstellung (Expo) in Lausanne werden Filme erstmals als Mittel der sozialen Kritik eingesetzt, insbesondere durch die fünf Kurzfilme von Henry Brandt («La Suisse s’interroge»).
Im gleichen Jahr hatte Seilers «Siamo italiani – Die Italiener» Premiere, ein Dokumentarfilm über das Leben italienischer «Fremdarbeiter» in der Schweiz. Damit bekamen Ausländer in der Schweiz erstmals eine Stimme im Schweizer Filmschaffen.
Mit diesem Film begründete Seiler das ganze Programm für den späteren Schweizer Dokumentarfilm, der vor allem das Filmschaffen in der deutschen Schweiz kennzeichnet. In der Westschweiz setzte sich die Gattung der Spielfilme durch – unter Regisseuren wie Alain Tanner, Claude Goretta und Michel Soutte.
Unbekannte Feinde
Im Jahr 1964 lebten und arbeiteten rund 500’000 Italiener als Saisonniers in der Schweiz. Wegen des Mangels an einheimischen Arbeitskräften waren sie in den damaligen Boom-Jahren eine unabdingbare Ressource für die Wirtschaft. Die Gastarbeiter waren einem strikten Regime unterworfen: Sie konnten als saisonale Arbeitskräfte maximal neun Monate pro Jahr in der Schweiz bleiben und hatten kein Recht auf Familiennachzug. Häufig lebten sie in Baubaracken und blieben eine Gruppe am Rande der Gesellschaft.
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«Siamo Italiani/Die Italiener» von Alexander J. Seiler
«Die Italiener wurden als Problem wahrgenommen. Und es gab eine latente Fremdenfeindlichkeit. Als Menschen blieben sie aber eigentlich Unbekannte», erinnert sich Alexander J. Seiler. «Genau aus diesem Grund waren sie ideale Figuren für die Art von Dokumentarfilm, die Gnant und ich machen wollten.»
Seiler unterhielt stets enge Kontakte mit der Gemeinschaft der Italiener: «Ich habe Italien immer geliebt. Mein Grossvater arbeitete als Architekt in Italien und meine Mutter wurde dort geboren. Sie sprach sehr gut Italienisch.»
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Zwischen Arbeitskräftemangel und Fremdenangst
Die Stimmen der Italiener
Die Neuigkeit des Films «Siamo italiana – Die Italiener» bestand nicht nur in der Auswahl des politisch umstrittenen Sujets, sondern auch in der Art und Weise zu filmen. Man kann sogar von einer künstlerischen Wende sprechen, vom «direkten Film», mit einer lautlosen Kamera und einem synchronisierten Ton.
Im Film gibt es keine Hauptdarsteller. Die Personen bleiben anonym, damit die Arbeiter keine Repressalien befürchten müssen. Die einzelnen Sequenzen, in denen die Zeugen berichten, folgen sich in langsamem Rhythmus. Gleichzeitig erhält man Einblick in deren Alltag: Arbeit, Wohnung, Sonntagsmesse, Abende im Tanzlokal. Die Augen von Kindern. Die Umrisse von Männern im Nebel.
Und dann gibt es Kommentare aus dem Off, gesichtslose Stimmen von Schweizern, die Allgemeinplätze über Italiener von sich geben: «Acht Schweizer machen nicht so viel Krach wie zwei Italiener“,„Man hat den Eindruck, hier Ausländer zu sein“ oder „Sie sind hinter unseren Frauen her.“
«Ein kleines Herrenvolk sieht sich in Gefahr: man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen», schrieb ein Jahr darauf Max Frisch in dem Vorwort zum Buch «Siamo italiani – Die Italiener. Gespräche mit italienischen Arbeitern in der Schweiz», das Alexander J. Seiler auf seinen gleichlautenden Film folgen liess.
Die Identitätskrise der Zweitgeneration
Entfremdung, Einsamkeit und Unterdrückung sind die Leitmotive im Filmschaffen von Alexander J. Seiler. 1977 kommt der wohl ehrgeizigste Film seiner Karriere in die Kinos: «Die Früchte der Arbeit.» Es handelt sich um einen Versuch, die Geschichte der Arbeiterbewegung in der Schweiz zu erzählen. Später, im Jahr 1990, folgt «Palaver, Palaver», ein Dokumentarfilm, der die Debatte über die Forderung nach der Abschaffung der Armee aufzeigt.
Seiler ist ein engagierter, unbequemer und klar linker Regisseur. Er hat mit seinen Dokumentarfilmen hitzige Debatten angestossen. «Über den Film Siamo italiani sind mehr Worte verloren worden, als Zuschauer in den Kinosälen gezählt wurden», sagt er mit einer gewissen Ironie. Im Kino sei dieser Film wohl ein Flop gewesen. Er sei vor allem über das Fernsehen und andere Kanäle wahrgenommen worden.
Knapp 40 Jahre nach «Siamo italiani» drehte Seiler «Il vento di settembre» (2002). Er besuchte einige der einst interviewten Italiener und ihre Kinder. Die meisten lebten mittlerweile in einem Dorf in Apulien, wohin sie nach ihrer Zeit als Saisonarbeiter definitiv zurückgekehrt waren.
Mit diesem Film schloss sich sozusagen ein Kreis. Seiler spricht von Integration, vom Überwinden der Armut, vor allem aber von einer Identität zwischen zwei Welten. Der Film beginnt mit den «Secondos», den Kindern der ehemaligen Saisonniers, die in der Schweiz geblieben sind. Und die sich fragen, welchem Land sie angehören, woher sie kommen und wer sie sind.
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«Septemberwind» von Alexander J. Seiler
Vom politischen Engagement zum Vergnügen
Seiler ist aber nicht nur wegen seiner Arbeit als Regisseur eine Leuchtgestalt des Schweizer Filmschaffens. Der Ehrenpreis, der ihm am 21. März 2014 vom Bundesamt für Kultur überreicht wird, ist auch eine Hommage an sein Engagement für die Filmförderung.
«Ich denke, dies hat mit meiner Geschichte als Einzelkind zu tun. Ich wollte nicht allein sein, ich hatte dieses Bedürfnis, meine Leidenschaft mit anderen zu teilen», erzählt Seiler. Unter anderem ist es seinem Engagement zu verdanken, dass die Solothurner Filmtage entstanden sind. Er war Mitbegründer des Schweizerischen Filmzentrums (heute SWISS FILMS) und des Verbandes Schweizerischer Filmgestalter.
Seiler ist stolz auf diese Errungenschaften. Doch er ist verärgert, wenn er auf die Gegenwart des Filmschaffens zu sprechen kommt. «Der wahre Dokumentarfilm, der ein soziales und politisches Engagement spiegelt, existiert heute nicht mehr – abgesehen von einigen Ausnahmen», so sein Urteil.
Verleugnet die neue Generation der Filmemacher das Erbe aus den 1960er- und 1970er-Jahren? Hat die «politische Korrektheit» gesiegt? Oder hat jede Epoche einfach ihre eigene Filmsprache? Sicher ist, dass der heutige gesellschaftliche Kontext nicht mit dem Klassenkampfdenken vergleichbar ist, das damals für eine bestimmte Art von Filmschaffen prägend war.
Sicherlich hat sich aber auch das Publikum verändert. Seiler: «Heute will sich das Publikum vielleicht nur noch vergnügen.»
Alexander J. Seiler wird am 6. August 1928 in Zürich geboren. Er studiert Philosophie und Literatur in Basel, Zürich, Paris und München. 1957 promoviert er in Wien mit einer theaterwissenschaftlichen Dissertation.
Zunächst ist er als Journalist tätig, wendet sich jedoch ab 1960 als Autor, Regisseur und Produzent dem Film zu. Er arbeitet regelmässig mit der Musikerin June Kovach und dem Kameramann Rob Gnant zusammen.
1971 gründet er zusammen mit Kurt Gloor, Markus Imhoof, Fredi M.Murer und Yves Yersin eine Produktionsgemeinschaft.
Seiler ist Mitbegründer der Solothurner Filmtage und des Schweizerischen Filmzentrums, heute SWISS FILMS, engagierte sich im Verband der Schweizerischen Filmgestalter und in der Eidgenössischen Filmkommission.
Am 21. März 2014 wird ihm der Ehrenpreis im Rahmen des Schweizer Filmpreises verliehen.
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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