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Alle Grenzübergänge im Bild: Die letzten Meter Schweiz

Grenze in La Motta, Kanton Graubünden
La Motta, Kanton Graubünden Gabriele Spalluto

Wer noch nicht alle Schweizer Grenzübergänge gesehen hat, kann diese in dem Fotoband des Tessiner Fotografen Gabriele Spalluto entdecken. Der Künstler hat in seinem Buch «Hic Sunt Leones» alle 175 Schweizer Grenzübergänge verewigt.

Für jeden Grenzübergang ein Bild. Die 175 Fotografien halten die grösseren und stärker bewachten Grenzübergänge fotografisch fest, etwa die Anlagen an der Autobahn A2 in Basel oder Chiasso, aber auch die kleineren, die sich in der Landschaft verlieren. Beispielsweise Beggingen im Kanton Schaffhausen, wo nichts weiter als ein Schild und eine Schweizer Flagge den Grenzübergang markieren.

Es sind optisch sehr unterschiedliche Orte, die aber formal die gleiche Funktion erfüllen. Spalluto lädt auf diese Weise zu einem vertieften Nachdenken über die Bedeutung von Grenzen ein.

>> Einige Bilder aus dem Buch mit freundlicher Genehmigung des Fotografen:

Grenzübergänge als Nicht-Orte

Der 30-jährige Gabriele SpallutoExterner Link, in Balerna (Tessin) geboren und aufgewachsen, besuchte die Zürcher Hochschule der KünsteExterner Link (ZHdK). Während seines Masterstudiums in Zürich begann er, über das Konzept von Ort und Nicht-Ort in Verbindung mit Grenz- und Zollübergängen nachzudenken. Mit der Grenze war er als Bewohner einer Grenzregion wie dem Mendrisiotto sehr vertraut.

Seit seiner Kindheit hat er die Grenze nach Italien unzählige Male überquert. Für ihn ist ein Grenzübergang etwas ganz Normales. Ein Ort des Transits.

Während seines Studiums in Zürich wird sein Ansatz philosophischer. Spalluto kommt in Kontakt mit dem Denken von Marc Augé. Für den französischen Anthropologen ist der Nicht-Ort nicht das griechische οὐτόπος, also die Utopie, sondern Nicht-Orte bezeichnen die architektonischen und urbanen Räume des Transits.

Nicht-Orte sind unpersönliche Orte, in denen die sich die Menschen hauptsächlich dank Schildern bewegen und orientieren. Klassische Beispiele sind Flughäfen, Bahnhöfe, Einkaufszentren. Doch für Spalluto gehören auch Grenz- und Zollstationen dazu.

Gemäss Augé kann aber jeder Nicht-Ort auch zu einem Ort werden, in dem er soziale Interaktion zulässt und fördert. So kann ein und derselbe Raum für die einen ein Ort sein und für andere ein Nicht-Ort. Die von Spalluto dokumentierten Grenz- und Zollstationen sind ein Nicht-Ort für Durchreisende, aber ein Ort für diejenigen, die dort arbeiten und soziale Beziehungen pflegen.  

Genau aus diesem Grund hat Spalluto einen wichtigen Entscheid getroffen: Er fotografierte Grenz- und Zollübergänge ohne die Anwesenheit von Menschen, ohne Grenzbeamte, ohne Touristen oder Grenzgänger:innen. In seinen Bildern spricht einzig die Architektur der Grenzübergänge.

«Ich interessierte mich für die Architektur dieser Orte und ihren symbolischen Wert. Auf praktischer Ebene haben alle Grenzübergänge eine greifbare Wirkung: In extremen Fällen kann die Grenze den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten», so Spalluto.

Idee kam während der Pandemie

Im März 2020 schliesst die Schweiz wegen des Corona-Virus die Grenzen. Plötzlich können diese nicht mehr überquert werden. Was bis anhin normal und alltäglich war, der Transit der Grenzen, wird plötzlich schwierig bis unmöglich.

Bei Spalluto löst dies eine tiefgründige Reflexion über die Bedeutung von Grenzen aus. Und es brachte ihn auf die Idee, die Schweizer Grenzübergänge zu fotografieren: «Ich wollte sie alle dokumentieren.»

Das Buchcover
Das Buchcover Artphilein Editions

Insgesamt sind so 175 Aufnahmen entstanden, eine für jeden Strassengrenzübergang, an dem es noch ein Dienstbüro gibt, wo also formale Kontrollen durchgeführt werden können. Kein Grenzübergang wurde vergessen: «Die Liste der Grenzübergänge und Zollstellen ist öffentlich.» Sie lässt sich über die Webseite des Bundesamts für Zoll und GrenzsicherheitExterner Link (BAZG) finden.

«Ich habe ein paar Probeaufnahmen gemacht, doch dann habe ich erfahren, dass es verboten ist, den Zoll zu fotografieren», erzählt der junge Fotograf. Er habe sich folglich an das BAZG gewandt und dank einer Sprecherin und der Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen ZollmuseumExterner Link in Gandria (Tessin) die Erlaubnis erhalten, alle Schweizer Grenzübergänge zu fotografieren. «Dann habe ich mich auf den Weg gemacht.»

Die Fotos wurden zwischen März 2022 und März 2023 aufgenommen. «Die Schweiz ist klein», schmunzelt Spalluto, «aber einige der Grenzübergänge sind weit entfernt… ». Die Fotografien wurden schliesslich in einem Buch mit dem Titel Hic Sunt Leones publiziert, das im Oktober 2024 im Verlag Artphilein EditionsExterner Link von Paradiso erschienen ist.

Das Ausland, terra incognita

«Während die Fotografien einen neutralen und objektiven Blick auf die Grenzen vermitteln sollen, gibt der Titel des Buches ganz im Gegensatz einen Schlüssel zur Interpretation des Werks, sogar zu einer politischen: Ein provokanter Titel », sagt Spalluto.  Der Ausdruck Hic Sunt Leones (hier sind Löwen) war in der Tat auf Karten der alten Römer zu finden, um unerforschte Gebiete (Afrikas) zu kennzeichnen, in denen Gefahren befürchtet wurden. Die gleiche Bedeutung hat die Textphrase Hic Sunt Dracones (hier sind Drachen).

Was sind diese Gefahren heute?  «Wir wissen alle nur zu gut, was sich auf der anderen Seite der Grenze befindet. Es ist daher seltsam, dass wir uns schützen müssen. Doch für viele Menschen und Politiker scheint es, als ob wir uns tatsächlich vor dem Anderen schützen müssen, vor einem Unbekannten, das in Wahrheit nicht unbekannt ist. Wir haben die Grenzen geschlossen, aber die Covid-19-Pandemie hat die Schweiz trotzdem nicht verschont», meint Spalluto.

Es ist kein Zufall, dass die Bilder immer aus dem gleichen Blickwinkel aufgenommen sind. Sie zeigen die letzten Meter Schweizer Boden, eventuell und insofern vorhanden das Zollgebäude. Und dann die ersten Meter ausländischen Bodens, die aufgrund der Perspektive kleiner und entfernter erscheinen.

CH Grenze Fossar, Kanton Genf
Fossar, Kanton Genf Gabriele Spalluto

Diese Perspektive war bewusst gewollt: «Ich habe stets die letzten Meter der Schweiz fotografiert: Was jenseits des Fotos, jenseits der Schweiz liegt, bleibt geheimnisvoll, Hic Sunt Leones

Er habe ein Buch über Grenzen gemacht, ohne diese jemals zu überschreiten. «Ich habe mich bewusst entschieden, diese Grenzen nicht zu überschreiten, um das Buch zu machen, andere Menschen können sie nicht überschreiten, selbst wenn sie es gerne tun würden.» Das Paradoxe sei, dass diese Übergänge einen Schutz darstellen sollen. «Und doch sind die meisten von ihnen nicht ständig mit Grenzschutzbeamten besetzt. »

Die erste oder letzte Bastion der Schweiz

Gabriele Spalluto interessiert sich ebenfalls für die Architektur der Zollgebäude und ihren symbolischen Wert. «Es gibt eine grosse Heterogenität bei den Zollgebäuden. Meine Fotografien sind fast wie seltsame Postkarten, die pittoreske Orte zeigen.»

Gibt es etwas, das alle Schweizer Grenzübergänge gemeinsam haben? «Sehr wenig. Natürlich gibt es immer die Schweizer Flagge und fast immer ein hässliches Vordach mit der Aufschrift Zoll, Dogana oder Douane und dem Namen des jeweiligen Übergangs. Aber jeder Ort ist anders. Da diese Grenzübergänge bei Tourist:innen das erste Bild der Schweiz vermitteln, könnte man erwarten, dass es sich um eine Art Visitenkarte der Schweiz handelt. Doch das ist nicht der Fall. Aber vielleicht ist das genau die Schweiz, die ein Tourist oder eine Touristin erwartet.»

Architektonisch ist der Unterschied zwischen den verschiedenen Grenz- und Zollübergängen enorm. Wer das Buch durchblättert, findet Betonbrücken, alte gedeckte Holzbrücken, Tunnels, Nebenstrassen, Wiesen, Autobahnen… alles Grenzübergänge, die jedes Mal von einer anderen Schweiz sprechen. Wer bewusst die meisten der Genfer und Schaffhauser Grenzübergänge anschaut (die praktisch nicht existieren), fragt sich wirklich, ob diese unsichtbaren Grenzen überhaupt Staatsgrenzen sind.

«Einige Grenzübergänge haben mich besonders beeindruckt. Wie gesagt, die Schweiz ist klein, und doch sind einige dieser Übergänge beziehungsweise Zollstellen sehr abgelegen… Im Tessin erinnere ich mich gut an Indemini… es dauert eine Ewigkeit, um dort hinzugelangen. Eine Besonderheit ist auch der Grenzübergang Bourg-Saint-Pierre im Wallis: Das Zollgebäude befindet sich im Tunnel des Grossen St. Bernhard. Oder es gibt einige Grenzübergänge, die praktisch aus dem Nichts auftauchen und nur durch eine Stange und eine Schweizer Flagge gekennzeichnet sind.

Andere, wie Chiasso Brogeda, sind eine Art Zitadelle. Kurzum, Heterogenität scheint mir das Wort zu sein, das die Vielfalt der 175 Grenzübergänge am besten beschreibt. »

Ch-Grenze Chiasso, Kanton Tessin
Chiasso, Kanton Tessin Gabriele Spalluto

Die Gewohnheit, eine Grenze zu überschreiten

Spalluto hat die ganze Schweiz von Süden nach Norden und von Osten nach Westen bereist: «Ich bin viel herum gekommen und habe die Schweiz besser kennen gelernt. Ich bin an Orte gelangt, die ich sonst nie besucht hätte. Die Schweiz ist wirklich sehr heterogen und vielfältig. Es gibt Kantone ohne Grenzübergänge, solche mit wenigen und Kantone mit sehr vielen Übergängen wie das Tessin.»

«In Basel und Genf wird die Grenze ähnlich wie im Tessin erlebt: Es gibt sehr viele Grenzübergänge und die Menschen überqueren diese selbstverständlich und routinemässig. Es ist für uns normal, von einem Land ins andere zu fahren oder zu laufen.

Für meine Freunde in Zürich ist das nicht normal. Es kommt in ihrer Empfindung nicht vor. Wir Tessiner:innen sind die Grenze gewöhnt, und doch sind wir diejenigen, die am meisten Angst vor Ausländer:innen haben.»  Oder wie es im Titel des Buches heisst: Hic Sunt Leones.

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob) / me

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