Alles fliesst – Hans Erni 100-jährig
Hans Erni, der bedeutende Schweizer Kunstmaler, Grafiker und Bildhauer, feiert seinen 100. Geburtstag. Obwohl Erni für sein Lebenswerk den "Swiss LifetimeAward" erhielt, ist er in Kunstkreisen eher eine Randfigur geblieben. Das hat seine Gründe.
1909: Zar Nikolaus II. von Russland trifft bei Turin zu einem Italien-Besuch ein, in dessen Verlauf ein gegen Österreich-Ungarn gerichteter Geheimvertrag unterzeichnet wird.
Das Deutsche Reich und die Schweiz schliessen in Bern einen neuen «Niederlassungsvertrag», der die Ansiedlung von Deutschen in der Eidgenossenschaft erleichtert.
In Bern wird das Denkmal des Weltpostvereins enthüllt, und in Genf konstituiert sich die Schweizerische Vereinigung für das Frauenstimmrecht.
Am 21. Februar wird Hans Erni in Luzern geboren.
100 jährig und kein bisschen müde
2009: Hans Erni erscheint – in Weiss gekleidet, wie ein Maler, der die Wohnung streicht – zum Gespräch. Er ist kein Greis, sieht aus, wie wenn er einem seiner Bilder entsprungen wäre. Auf einen Stock mit Silberknauf gestützt. Ein vifer Gesprächspartner, der rege am täglichen Geschehen teilnimmt.
«Da sitzen am WEF in Davos der Schweizer Bundespräsident Merz und Russlands Putin zusammen zum Dialog», sagt Erni. Dafür sei er schon 1944 eingetreten, für den schweizerisch-russischen Dialog.
«Aber damals hiess das Sowjetunion, und ich wurde als Kommunist verschrien und mit dem Bann der Schweizer Regierung belegt.»
Auch wenn diese Regierung sich kürzlich bei ihm formell für diese Haltung entschuldigt hat, sagt Erni: «Ich bin doch bis heute ein Geächteter geblieben.»
Dass die Schweizer Kunstelite auch bis heute Erni gegenüber seltsam reserviert bleibt, scheint ihm recht zu geben.
Panta Rhei
Doch Erni grämt sich deshalb nicht. Er sagt es immer und sagt es auch jetzt wieder: «Das Vergangene ist nicht so wichtig, ich schaue in die Zukunft.»
Er habe zurzeit so viel zu tun, wie in seinem ganzen Leben vorher nicht. Unter anderem entwerfe er ein grosses Keramik-Wandbild für die UNO in Genf. Ein Auftrag der Stadt Genf.
Der Mann ist hundert Jahre alt! Alles fliesse eben, sagt Erni, und deshalb bezeichnet er sein 1935 entstandenes abstraktes Bild Panta Rhei I als eines seiner wichtigen Werke.
Erni hat als Avantgardekünstler, als abstrakter Maler begonnen und war Teil dieser Bewegung in Paris, England und der Schweiz.
«Es war eine Absage an den aufkommenden Akademismus in der Malerei. Die Abstraktion hat das Elementare in den Vordergrund gerückt», sagt Hans Erni. Das alles sei damals ein Fremdkörper gewesen, und er habe auch keinen Rappen damit verdient.
Ferienland Schweiz
Erni verabschiedete sich von der reinen Abstraktion, als wieder Konkretes gefragt war, ja Überlebenswichtiges. Die braune Gefahr im Norden wurde immer mächtiger, und am Vorabend der Katastrophe fand 1939 in der Schweiz eine Landesausstellung statt.
In ihrem Auftrag malte Erni das 100 mal 5 Meter grosse Wandbild «Die Schweiz – Ferienland der Völker». Eine Synthese von Abstraktion und Realismus.
Das Bild, das uns heute wie Tourismuswerbung auf hohem Niveau erscheint, sei mehr gewesen, sagt Erni zu diesem Schlüsselbild aus jener Schaffensphase.
«Ich habe eine eigenständige Schweiz gemalt. Eine Identifikation unter der massiven Bedrohung aus dem Norden, aber auch durch die nazifreundlichen Kreise im Inland.»
Der Nestbeschmutzer
Als wichtige Werke der Nachkriegszeit betrachtet Erni seine diversen Plakate, mit denen er, der kreative Humanist, auf der Seite der Menschenwürde Stellung bezieht: Für den Dialog Schweiz-Sowjetunion, gegen den Atomkrieg oder für den Kampf um sauberes Wasser.
Damit setzte sich Erni in die Nesseln der «Kalten-Krieg-Polemik» in der Schweiz. Er wurde als Kommunist gebrandmarkt (ein Universalbegriff in der damaligen Schweiz für alles Nonkonformistische). Aber auch in den USA war Erni 1950 unerwünscht.
Weil er für das Atom- und das Wasserplakat einen Totenkopf malte, höhnten die Zeitungen damals: «Sein Totenkopf ist heute frei für den Gewässerschutz, weil zurzeit, da Chruschtschow den so genannten ‹Friedensbewegungen› mit 50-Megatonnen-Bomben das Konzept verdirbt, mit amerikanischen A-Bomben keine politischen Geschäfte zu machen sind.»
Erni wird von der Regierung, von diversen Medien, aber auch von grossen Teilen der Öffentlichkeit zum Landesverräter gestempelt. Er verliert seine öffentlichen Aufträge, wird observiert. Eine bereits gedruckte – von ihm gestaltete – Schweizer Banknotenserie wird zurückgezogen.
Trotzdem erfolgreich
Tröstlich dabei: Finanziell gesehen ist Hans Erni ein erfolgreicher Maler geworden. Seine Kunst setzte sich weltweit durch, und der Künstler ist bis ins hohe Alter seinen Werten – in einer Menschenwelt menschlich zu bleiben – treu geblieben, hat sich nicht beirren lassen.
Auf seine wichtigen Bilder angesprochen meint er: «Ich hoffe, dass nicht ein oder zwei Bilder von mir bleiben werden, sondern das Lebenswerk, und dass dieses Werk vielleicht auf künftige Generationen ausstrahlt.»
Aber da alles fliesst, sagt er auch: «Dass mein Werk mich überdauert, das war nie mein Ziel. Es spielt für mich eigentlich keine Rolle.»
Sagt es und geht wieder in sein Atelier. Die Arbeit rufe.
swissinfo, Urs Maurer
1909: Hans Erni wird am 21. Februar in Luzern geboren. Sieben Geschwister.
1924–27: Lehre als Vermessungstechniker und Bauzeichner.
1927–29: Kunstgewerbeschule Luzern, Académie Julian Paris.
1933-34: Mitglied der Pariser Gruppe «Abstracion-Création». Erste ungegenständliche Bilder.
1937-38: Aufenthalt in London. Trifft u.a. Henry Moore und Alexander Calder sowie die aus Nazi-Deutschland vertriebenen Bauhaus-Küstler um Walter Gropius.
1939: Zwölfteiliges Wandbild für die Landesausstellung in Zürich.
1944: Plakat für die Gesellschaft Schweiz-Sowjetunion für einen Dialog der Länder.
1949: Entzug eines Banknotenauftrages durch die Nationalbank.
1954: Plakat «Atomkrieg – nein».
1961: Plakat «Rettet das Wasser».
1966: Umfassende Ausstellung in Schaffhausen. Erni wird schrittweise rehabilitiert.
1968: Kunstpreis der Stadt Luzern.
1979: Eröffnung Hans Erni-Museum Luzern.
1983: UNO-Friedensmedaille.
2005: Ehrenmedaille der südfranzösischen Stadt St. Paul-de-Vence für sein Lebenswerk.
2008: Erni-Ausstellung in der Fondation Pierre Gianadda in Martigny. Bei der Eröffnungsfeier offizielle Entschuldigung vom Schweizer Bundespräsidenten Pascal Couchepin für die Haltung der Schweizer Regierung in den 50er- und 60er-Jahren.
21. Februar 2009: 100. Geburtstag. Bundespräsident Hans-Rudolf Merz würdigte Erni als bedeutenden und grossartigen Künstler. Alt Bundesrätin Ruth Dreifuss dankte Erni für sein Engagement. Der Jubilar stiftet den neuen mit 50’000 Fr. dotierten «Hans-Erni-Preis», der ab 2010 alle zwei Jahre an «fortschrittlich denkende und handelnde Menschen» vergeben wird. Präsentation zwei von Erni gestaltetetn Briefmarken.
Ab 30. Mai 2009: Grosse Ausstellung im Kunstmuseum Luzern.
Hans Erni ist verheiratet mit Doris. Er und seine Frau haben zusammen drei Kinder.
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