Als der Hunger nach Energie ganze Dörfer frass
Grüne Energie gegen Landschaftsschutz, diesen Konflikt gibt es nicht erst seit heute. Ein Blick auf die verschwundenen Dörfer, die auf dem Grund der Schweizer Stauseen schlummern.
«Hier hat Grossvater Silvio gearbeitet!». Diesen Satz hörte ich in meiner Kindheit häufig, als wir mit dem Auto bei Marmorea über die Julier-Passstrasse fuhren. Mein Grossvater, ein Bergbauer mit vielen Kindern, hatte Anfang der 1950er-Jahre eine befristete Anstellung auf der Baustelle für den Staudamm Marmorea gefunden, den ersten grossen Erdschüttdamm Europas.
Auf den Satz über den Grossvater folgte oft ein verlegenes Schweigen. Und dann wurde das Gespräch auf die Dorfbewohner:innen gelenkt, «die armen Leute», die ihre Häuser verlassen mussten, um dem künstlichen Stausee Platz zu machen.
«Dem grossen Moloch geopfert»
Seit dem Mittelalter hatten die Einwohner:innen von Marmorera in der Abwicklung des Transitverkehrs über den Julier-Pass eine Einnahmequelle neben der Landwirtschaft gefunden. «Doch mit der Eröffnung des Albula-Bahntunnels 1903 brach der lokale Postkutschenverkehr zusammen», erinnert sich der Historiker Sebastian De Pretto.
Sebastian De Pretto ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut «Kulturen der Alpen»Externer Link der Universität Luzern. Ab Januar wird er an der Abteilung für Wirtschafts-, Sozial- und UmweltgeschichteExterner Link des Historischen Instituts der Universität Bern zum Thema «Staudämme und Umsiedlungspolitik nach 1918 – zwischen Partizipation und Marginalisierung peripherer Gesellschaften» forschen.
Die Gemeinde Marmorera hatte 1948 mit grosser Mehrheit der Konzession für den Bau eines Stausees (Lai da Marmorera) für die Elektrizitätswerke Zürich (EWZ) zugestimmt. Der Entscheid erfolgte angesichts der starken Abwanderung und zunehmender finanzieller Schwierigkeiten der Berggemeinde.
In den folgenden Jahren gaben die verbliebenen knapp 100 Dorfbewohner:innen ihre Häuser auf und zogen weg. Die letzten Gebäude wurden 1954 abgerissen, bevor das Wasser des neuen Sees die Siedlungsreste überflutete. Ein neues Mormorea entstand etwas oberhalb des Stausees, aber viele Menschen verliessen die Region für immer.
Die schwierige wirtschaftliche Lage der Gemeinde hatte das Entstehen einer Oppositionsbewegung gegen das Projekt verhindert. Aber gab durchaus kritische Stimmen. So schrieb der aus Marmorea stammende Kapuzinerpater und Dichter Alexander Lozza: «Agl grond Moloch, Turitg, sacrifitgeschas / l’istorgia, igl lungatg, la tradiziun!» (Dem grossen Moloch Zürich geopfert / die Geschichte, die Sprache, die Tradition).
Die Stadt Zürich benötigte nach dem Zweiten Weltkrieg dringend neue Energiequellen. Sie wandte eine sehr wirksame Strategie an, um sich die Unterstützung der Bündner Gemeinde zu sichern. Sebastian De Pretto sagt: «Die Vertreter der Stadt Zürich schlossen vor der Abstimmung in der Gemeindeversammlung Vorverträge mit den meisten Landbesitzern von Marmorera ab und konnten so auf ihre Unterstützung bauen.»
Marmorera: Kein Einzelfall
Das Wasserkraftwerk Marmorera mit dem gleichnamigen Stausee war nicht das einzige Projekt, das zu einer Umsiedelung der Bevölkerung führte. Das vielleicht bekannteste Flutungsprojekt im Alpenbogen ist der Reschensee im Vinschgau (Italien).
Das Bild mit dem aus dem Wasser ragenden Glockenturm von Curon wurde zu einer Ikone. Der Reschensee wurde einige Jahre vor dem Marmorera-See unter massgeblicher Beteiligung von Schweizer Kapital fertiggestellt.
>> Geflutete Dörfer der Schweiz:
In der Schweiz war das erste Wasserkraftwerk, das zur Räumung zahlreicher Häuser führte, das Laufwasserkraftwerk Eglisau-Glattfelden im Kanton Zürich. Aufgrund des Aufstaus des Rheins wurde ein grosser Teil des Dorfes Oberriet unbewohnbar; rund 80 Personen mussten zwischen 1915 und 1920 ihre Häuser verlassen. Die Inbetriebnahme des Kraftwerks erfolgte 1920.
Ein Jahrzehnt später (1932-1937) wurde nahe Einsiedeln im Kanton Schwyz das Projekt SihlseeExterner Link realisiert, der flächenmässig grösste Stausee der Schweiz. Bauherrin war die Etzelwerke AG, eine Gesellschaft der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) und der Nordostschweizerischen Bahnen (NOK).
Das Projekt, dessen erste Konzession auf das Ende des 19. Jahrhunderts zurückgeht, umfasste über 900 Hektaren Landwirtschaftsfläche und Hunderte von Bauernhöfen. Etwa 500 Menschen mussten das geflutete Gebiet verlassen; nur ein kleiner Teil der Bevölkerung blieb in der Region.
Das Sihlsee-Projekt war im Zusammenhang mit der Elektrifizierung des schweizerischen Eisenbahnnetzes entstanden. Diese war während des Ersten Weltkriegs strategisch wichtig geworden. Das Wasserrechtsgesetz von 1916 ermächtigte den Bund, zur Erfüllung von strategischen Ziele Fliessgewässer zu nutzen. Und die lokalen Interessen mussten nationalen Interessen untergeordnet werden.
Subalterne Beziehungen
Der wirtschaftliche Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg sorgte für einen hohen Energiebedarf. Weitere Siedlungen erlitten aus diesem Grund das gleiche Schicksal wie einst das Dorf Marmorera. Etwa 70 Personen mussten etwa die GöscheneralpExterner Link im Kanton Uri verlassen, die 1962 vom gleichnamigen See überflutet wurde. An diesem Projekt waren die Schweizer Bundesbahnen SBB ebenfalls beteiligt.
Nahezu alle Projekte, die eine Umsiedlung der Bevölkerung zur Folge hatten, lösten bei der Bevölkerung in irgendeiner Form Unzufriedenheit und Widerstand aus. Selbst wenn sie sich nicht direkt gegen die Projekte wehrten, setzten sich die Gemeinden und lokalen Behörden hartnäckig für gute Entschädigungen oder die Kompensation von verlorenem Eigentum ein.
Doch trotz der Entschädigungszahlungen und der Versuche, einen Teil der Bewohner:innen in nahe gelegene Gebiete umzusiedeln, verliessen viele Menschen die betroffenen Regionen für immer. Die Zerstörung von Häusern, die seit Generationen bewohnt waren und manchmal dann mit Sprengstoff in die Luft gejagt wurden, hinterliess heftige Emotionen, manchmal sogar Traumata und tiefe Wunden.
Letztlich fanden solche Operationen laut Sebastian De Pretto immer im Rahmen «subalterner Beziehungen und Machtungleichheiten» statt. Daran änderte auch ein gewisser Spielraum für Mediationen nichts.
«Wir gehen nicht!»
In einigen Fällen hatte der Widerstand der örtlichen Bevölkerung jedoch Erfolg, beispielsweise beim geplanten Wasserkraftwerk im UrserentalExterner Link im Kanton Uri.
Das 1920 erstmals vorgestellte und während des Zweiten Weltkriegs neu formulierte Projekt sah als Reaktion auf den drastischen Anstieg des Stromverbrauchs und aufgrund der schwierigen Versorgungslage mit Kohle die Einrichtung eines künstlichen Stausees vor, der das gesamte obere Urserental einschliesslich der Dörfer Realp, Hospental und Andermatt umfassen sollte.
Es handelte sich um ein Projekt in einer für die Schweiz bisher unbekannten Grössenordnung mit einer geplanten Jahresproduktion von fast 3000 GWh. Dieser Gigantismus war wahrscheinlich der Hauptgrund für das Scheitern des Projekts.
Die gesamten Kommunalverbände und Korporationen des Urserentals sprachen sich gegen das Vorhaben aus. Propagiert wurde der Slogan: «Wir verhandeln nicht, wir verkaufen nicht, wir gehen nicht!» Kapitalistische Habgier wolle aus dem schönen Urserental einen Stausee machen, argumentierten die Projektgegner:innen.
Nach unzähligen Diskussionen und einem Volksaufstand in Andermatt im Jahr 1946 wurde das Projekt 1951 endgültig begraben. Als Teilkompensation wurde der erwähnte Göscheneralpsee gebaut. Eine ähnliches Projekt im büdnerischen RheinwaldExterner Link scheiterte ebenfalls am Widerstand der Bevölkerung.
Die Bedingungen des Widerstands
Anders als beispielsweise in Italien oder Frankreich, wo die Zentralregierung die Nutzungsrechte vergibt, liegt es in der Schweiz in der Kompetenz der Kantone, die Konzessionäre zu bestimmen. «Im Tessin werden die Konzessionen für die Wasserkraftnutzung vom Kanton vergeben, die Gemeinden haben wenig Mitspracherecht», sagt De Pretto. «In Graubünden hingegen liegt der Entscheid bei den Gemeinden, in Uri beim Kanton und den Korporationen. Im Kanton Schwyz entscheiden auch die Bezirke».
Das heisst: Während die italienische Rechtslage den vom Bau des Reschensees betroffenen Vinschgauer Gemeinden wenig Handlungsspielraum liess, begünstigte der Schweizer Föderalismus in einigen Fällen die Oppositionsbewegungen.
«Die Bedingungen waren jedoch von Fall zu Fall sehr unterschiedlich», stellt De Pretto fest. «Während im Fall von Marmorera die Gemeinde und der Kanton das Projekt befürworteten, waren im Rheinwald die vom geplanten Stausee am stärksten betroffenen Gemeinden (SplügenExterner Link, MedelsExterner Link und HinterrheinExterner Link) strikt gegen das Projekt einer Flutung des oberen Talgrunds.
Schliesslich stellte sich sogar der Kanton Graubünden auf ihre Seite. Das Projekt im Urner Urserental wurde sowohl von der Gemeinde-Kooperation als auch vom Kanton abgelehnt.
Aber wäre es heute noch denkbar, bewohnte Gebiet in der Schweiz für die Energieproduktion zu opfern? «Das ist eher unwahrscheinlich», meint De Pretto. Heute verfügten die Randregionen über wesentlich mehr Kommunikationsmöglichkeiten; eine Mobilisierung gegen solche Projekte wäre viel einfacher.
Darüber hinaus sei die öffentliche Energiedebatte heute von einem Bewusstsein für die ökologische Bedeutung des Alpenraums geprägt. «In den 1950er-Jahren war der Diskurs über das Wirtschaftswachstum bestimmend», so die Analyse des Historikers.
Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob
Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob
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