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Als Künstler und Kurator macht Paolo Colombo die Zeit greifbar

paolo colombo
Angesehener Kurator, erfolgreicher Künstler: Für Paolo Colombo besteht das Geheimnis darin, die beiden Aktivitäten klar voneinander zu trennen. WireImage / Venturelli

Paolo Colombo war von 1990 bis 2001 Direktor des Zentrums für zeitgenössische Kunst in Genf. Nun ist er als Künstler an seinen früheren Wirkungsort zurückgekehrt. Seine Ausstellung «The second time» (das zweite Mal) ist eine Retrospektive anlässlich des fünfzigjährigen Bestehens des Zentrums. Er selbst kann ebenfalls auf 50 Jahre Berufskarriere zurückblicken.

Der 1949 in Turin geborene Paolo Colombo unterbrach seine künstlerische Tätigkeit im Jahr 1986 für gut 20 Jahre, um sich seiner Familie zu widmen sowie in Museen und anderen Kunstinstitutionen zu arbeiten.

Diese Erfahrung ermöglichte ihm, die Kunstwelt nicht nur als Kunstschaffender, sondern auch aus einer anderen Perspektive besser zu verstehen. Colombo, der an der Universität Rom Sprachwissenschaften und Literatur studiert hat, ist auch ein Dichter.

Wie in der Poesie ist seine Kunst eng mit den täglichen Rhythmen und der inneren Reflexion verbunden. Er wohnt in Crans-Montana im Wallis und hat sein Atelier in Athen, das er als idealen Ort betrachtet, um seine Kunst in Symbiose mit einem einfachen Lebensstil zu leben.

Für das Centre d’Art ContemporainExterner Link in Genf ist Colombo eine wichtige Figur und seine Rückkehr als Künstler ist von grosser symbolischer Bedeutung. Er hat in der Tat dazu beigetragen, die Rolle dieser Institution in der europäischen Kunstszene zu konsolidieren. Unter den ausgestellten Werken befinden sich Aquarelle, die teilweise mit Gedichten versehen sind, multimediale Arbeiten und Texte aus seinen Büchern.

Dazu kommen Werke, in denen sich zeitgenössische Kunst mit traditionellem Kunsthandwerk verbindet, wie ein in Indien gefertigter Teppich oder Stickereien, die in Zusammenarbeit mit ITERARTE entstanden sind.

Gezeigt wird eine Auswahl seines Schaffens, 40 Werke aus den Jahren 1971 bis 2024. Diese beschäftigen sich mit den Themen Existenz und Schönheit. Sie bieten dem Publikum die Möglichkeit, über das kulturelle Erbe und die erneuernde Kraft der Kunst nachzudenken. Die Ende Oktober eröffnete Ausstellung ist noch bis zum 9. Februar 2025 zu sehen.

gemälde mit text
Paolo Colombo, An Land, 2021. Aquarell auf Papier. mit freundlicher Genehmigung des Künstlers und Olivier Varenne

SWI: Welche Erfahrung ist es für Sie, als Künstler an Ihren früheren Wirkungsort, das Centre d’Art Contemporain in Genf, zurückzukehren?

Paolo Colombo: Diese Rückkehr bewegt mich tief. Erstmals habe ich in diesem Zentrum 1978 ausgestellt. Damals stand es unter der Leitung von Adelina von Fürstenberg. Als ich das Zentrum 2001 verliess, war es noch eine junge Institution mit einem kleinen Budget.

Inzwischen ist es gereift, mit Retrospektiven wichtiger Künstler und der fantastischen Biennale de l’image en mouvement BIMExterner Link (Biennale für Bilder in Bewegung).  Der gute Ruf verdanke sich auch dem derzeitigen Direktor Andrea BelliniExterner Link. Ich freue mich, als Künstler von der erfreulichen Entwicklung des Zentrums zu profitieren und es zu feiern.

Als Direktor haben Sie damals mit finanziell begrenzten Mitteln arbeiten müssen. Angesichts des Reichtums der Stadt Genf sprachen sie von einer «institutionellen Armut». Wie ist es Ihnen gelungen, gleichwohl das Zentrum aufblühen zu lassen?

Der Gegensatz zwischen dem reichen Genf und den begrenzten Mitteln für die zeitgenössische Kunst hat mich immer beeindruckt. Ich musste meinen Erfindungsgeist bemühen, der bis in meine Kindheit zurückreicht. Als Kind stellte ich mir vor, ich könnte ein Orchester aus Menschen zusammenstellen, die mit Gummibändern spielen.

Als Direktor habe ich genau diese Idee in die Tat umgesetzt. Es ist eine «kreative Nüchternheit», die sich auch in meiner künstlerischen Arbeit widerspiegelt. Metaphorisch gesprochen war ich mein ganzes Leben lang in verschiedenen Rollen der Dirigent eines Gummibandorchesters.

detailaufnahme eines kunstgemäldes von colombo
Paolo Colombo, Glyzinie (Detail), 2023. Aquarell auf Papier, 112 x 75 cm. mit freundlicher Genehmigung des Künstlers und der Galerie Baert

Sie haben Erfahrungen als Kurator in schwierigen Umfeldern gesammelt, beispielsweise bei der Mardin Biennale in der Türkei. Was konnten Sie aus diesen Projekten lernen?

Als ich 2012 die Mardin-BiennaleExterner Link kuratierte, hatte ich ein Budget von nur 30’000 Dollar. Die Biennale hiess Double Take und war für mich eine der prägendsten Erfahrungen: Ich platzierte Werke in Kaffeehäusern und öffentlichen Räumen, wo die Grenze zwischen Kunst und Alltag verschwamm.

Ich habe daraus gelernt, dass Kunst autonom sein kann und nicht vom Kontext abhängt. Wenn ein Werk wirklich funktioniert, hat es die Kraft, von allen wahrgenommen zu werden, auch in unkonventionellen Umgebungen.

Sprechen wir nun über Ihr Leben als Künstler. Seit Ihrer ersten Ausstellung in einer Galerie in Mailand 1974 sind fünfzig Jahre vergangen. Was hat sich in Ihrem künstlerischen Prozess verändert? Und was ist konstant geblieben?

In dieser langen Zeit war ich 21 Jahre lang nicht als Künstler tätig, denn ich glaube nicht, dass man ein Sonntagsmaler sein kann. Die Tätigkeit als Kurator war die beste Schule. Ich habe viel über Räume gelernt, aber ich kann keinen Einfluss des Kuratierens auf mein Künstlerdasein erkennen. Poesie wie Malerei geben mir ein Gefühl der Ekstase, das sich mit der Wesentlichkeit und Nüchternheit meiner Kunst verbindet.

Ich habe mit einem Bleistift und einem Blatt Papier begonnen und Kunst gemacht, die ich zusammenrollen und in einen Schuhkarton stecken konnte. Dieser Sinn für das Nüchterne ist ein roter Faden, der sich durch meine Arbeit zieht und immer wieder auftaucht. Noch heute mache ich zum Beispiel Videos einfach mit meinem Handy und mit Materialien, die ich am Strand gefunden habe.

  

In Ihrer Arbeit scheint Zeit wichtiger zu sein als materielle Ressourcen. Stimmt dieser Eindruck?

Auf alle Fälle. Meine Werke spiegeln einen meditativen, fast rituellen Ansatz wider. Bedenken Sie: Ich wiederhole die Geste, den Pinsel ins Wasser zu tauchen, um ihn zu reinigen, für ein einziges Bild rund 100’000 bis 120’000 Mal. Es gibt eine Art Selbsthypnose beim Malen, beim Erstellen jedes Mosaikteils oder beim Zeichnen einer Linie, eines Punktes oder eines Mosaiksteins. Für mich ist die in ein Werk investierte Zeit greifbar, sie ist wohl das Einzige, was «überproduziert» ist.

Obwohl Sie in Crans-Montana leben, befindet sich Ihr Atelier in Athen. Welchen Einfluss hat Griechenland auf Ihre Arbeit?

Griechenland ist für mich eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration. Es ist das Land der Freude und der Musik, die ich mein ganzes Leben lang gehört habe, sowie von Dichtern wie George Seféris und Kaváfis, die ich immer noch lese. Die byzantinische Kunst, die abstrakt und nicht mimetisch ist, hatte schon immer einen grossen Einfluss auf mich.

In Athen habe ich ein beschämend schönes Leben. Diese Stadt gibt mir den Rhythmus und die Konzentration, die ich für meine Arbeit brauche, in einem Kontext, in dem ich nach meinem eigenen Tempo leben und Kunst schaffen kann.

Ich kann meine Arbeit mit vergnüglichen Aktivitäten wie dem Füttern von Strassenkatzen vermischen. Diese Einfachheit habe ich auch als Junge in den Schweizer Alpen erlebt.

Was sollte das Publikum von Ihrem Werk mitnehmen?

Ich male, was ich liebe, was ich schön finde, ohne mich darum zu kümmern, ob es anderen gefällt oder nicht. Zum Beispiel griechische Musiker von den 1920er bis zu den 1950er Jahren. Ich hoffe, dass das Publikum die Zeit wahrnimmt, die ich meinen Werken widme, sowie die Seele, Gelassenheit und Sorgfalt erkennt.

Jedes Werk ist das Ergebnis von tausendfach wiederholten Gesten, es ist eine Kunst, im Gleichgewicht mit der Welt zu leben. Ich hoffe, dass die Betrachter:innen etwas Universelles in meiner Arbeit finden.

Glauben Sie, dass die Kunst eine politische Rolle spielen sollte, indem sie kulturelle Trennungen und überkommene Klischees in Frage stellt?

Darüber denke ich nie nach. Ich denke immer in einer begrenzten Dimension, in einer 1:1-Beziehung mit einem Werk wie mit einem Buch. Meine Arbeit ist keine Bewertung dessen, was in der Welt passiert.

Für mich geht es in der Kunst um Authentizität und Menschlichkeit, nicht um Politik. Nüchternheit und Aufrichtigkeit können eine Kraft haben, die über kulturelle Schemata hinausgeht.  

Was wünschen Sie sich für das Zentrum für zeitgenössische
Kunst in Genf, das wegen Renovierungsarbeiten für mindestens drei Jahre geschlossen werden soll?

eine gemalte Hand
Paolo Colombo, Die Hand der Aphrodite, 2021. Aquarell und Bleistift, 31 x 23 cm. Courtesy of the artist. Private collection, Paris.

Ich hoffe, dass einige historische Elemente erhalten bleiben, wie etwa der Holzblockboden, der Geräusche und Vibrationen dämpft. Nach fünfzig Jahren ist es nur natürlich, dass sich ein Ort erneuert.

Ich bin zuversichtlich, dass Andrea Bellini die richtigen Entscheidungen in den heutigen Zeiten trifft, indem er die Identität des Zentrums respektiert und es zugleich auf eine internationale und nicht-patriarchalische Zukunft ausrichtet. 



Parallel zu Ihrer Ausstellung ist bis Mitte Februar Rituals of Care des brasilianischen Künstlers Antonio Obá (1983) zu sehen, bevor das Zentrum für die Renovierung geschlossen wird. Geht diese Ausstellung in die richtige Richtung, um mit einer oft klischeebehaften Sichtweise von nicht-europäischen Künstlern zu brechen? 

Ganz sicherlich. Ich kann da einen Anknüpfungspunkt finden zu einer Ausstellung, die ich vor mehr als 30 Jahren mit brasilianischen Künstlern wie Jac Leirner und den visuellen Dichtern Augusto und Haroldo de Campos kuratierte.

Damals war es keineswegs selbstverständlich, eine Ausstellung auf die Beine zu stellen, bei der aussereuropäische Künstler:innen nicht in vorgefertigte und einschränkende Kategorien gezwängt wurden. Glücklicherweise ist dies heute nicht mehr der Fall.

Editiert von Daniele Mariani und Eduardo Simantob

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