«Als ob ich von morgens bis abends nur Schriftsteller wäre»
1000 Kolumnen, 30 Bücher und unzählige Lesungen in über 40 Jahren: Trotzdem ist der kritische Zeitgeist und Gedankenspieler Peter Bichsel kein Vielschreiber, kein ausschweifender Erzähler und keiner, der sich das Schreiben leicht macht.
Er hat immer viel gelesen, hat lesend gelebt, Lesen war ihm wichtiger als Schreiben. Beides hat inzwischen abgenommen, macht ihn müde. «Die letzten Kolumnen, die ich geschrieben habe, kamen sozusagen unter Qualen zustande. Ich hoffe, man merkt es nicht. Nachdem ich eine Kolumne geschrieben hatte, war ich jeweils so müde, wie wenn ich auf einen Berg geklettert wäre. Jetzt ist Schluss.»
Nun ist er 80 Jahre alt, der in Solothurn lebende Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel, Sohn eines Eisenbahners, aufgewachsen in Olten, Lehrer, Individualist, Querdenker, Philosoph, Schreiber, Poet, der mit dem Alter keine Schwierigkeiten haben will und nostalgische Gefühle, «die im Kopf geschehen», zu verhindern versucht.
Das Unangenehme sei, dass es sich um eine Zahl handle, man beginnt zu rechnen. «Man rechnet aus, wie alt der uralte Lehrer damals war, und stellt fest, er war 45, ein Greis in unseren Augen. Oder mein bester Freund, der mit 50 gestorben ist. Er war ein älterer Mann, inzwischen weiss ich, dass er jung gestorben ist. Und dann kommt noch die Rechnung in die Zukunft – und die ist kurz.»
«Ich bin so alt, wie ich bin»
Zu seinem runden Geburtstag werde jetzt wieder über den Schriftsteller Peter Bichsel geschrieben, moniert er. – Oder kokettiert er nur? «Es sieht so aus, wie wenn ich von morgens früh bis abends spät nur Schriftsteller wäre. So ist es nicht, so war es nie.»
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Stationen im Leben des Schriftstellers
Er sei mehr Raucher und Rotweintrinker als Schriftsteller, erzählt er in seiner Schreibwerkstatt mitten in der Solothurner Altstadt, einem gemütlichen Raum, etwas dunkel, überall Bücher, aufgestapelt auf dem Tisch, am Boden. Fotos und Bilder an der Wand und die Lieblingspfeife seines verstorbenen Freundes Max Frisch, eine Sammlung von Nashörnern in verschiedenen Grössen, Farben und Materialien. Bichsel kommt jeden Tag hierher, manchmal nur für ein, zwei Stunden.
Just zu seinem 80. ist das Buch «Über das Wetter reden» erschienen. «Dieser Band beschliesst Bichsels wunderbare Comédie Humaine, die in der Gegenwart ihresgleichen sucht. Dieses Opus Magnum spannt einen Kosmos von Geschichten auf, in denen das Unspektakuläre, Alltägliche, Unscheinbare in schillerndem Glanz erscheint», rühmt der Literaturkritiker Beat Mazenauer die Neuerscheinung.
In dieser Kolumnen-Sammlung ist auch vom Alter und Altern die Rede. Der Satz: «Man ist so alt, wie man sich fühlt», macht Bichsel skeptisch, denn «damals, als ich dreissig war, hat mir das niemand gesagt. Damals hat mir auch niemand gesagt, dass ich gut aussehe. Man muss alt genug werden, um sich diese Dummheiten um die Ohren schlagen zu lassen. Nein, ich bin nicht so alt, wie ich mich fühle, ich bin so alt, wie ich bin, zum Mindesten das müsst ihr mir lassen».
Individualist und Zweifler
Peter Bichsel hinterfragt, was er sieht, was er denkt, auch sich selber. Als Zweifler sei er bislang gut gefahren. Und er lässt sich ungern festlegen, zum Beispiel auf einen Lieblingsautor, auch wenn er seine Bewunderung für Leo Tolstoi nicht verschweigt. «Liest man ‹Krieg und Frieden›, kann man die ganze Welt vergessen, verliert den Boden unter den Füssen, verliert jeglichen Kontakt zur Realität. Es gibt eine tiefe Freundschaft zu diesem Tolstoi, auch wenn ich ihn nie gekannt habe und er schon lange tot ist.»
Bichsel hält sich weder für einen leidenschaftlichen Menschen, noch einen leidenschaftlichen Schreiber. «Es muss nicht sein, aber ich habe es schon als Kind gerne gemacht. Zwischen 8- und 20-jährig habe ich wohl mehr geschrieben als nachher in meinem ganzen Leben.»
Noch lieber aber hätte er die Tour de France gewonnen, sagt er. «Aber ich war immer der schlechteste Turner in der Schule, im Fussball der 2. Ersatzmann des linken Verteidigers, kam also nie zum Spielen. Dann ging ich nach Hause und habe Gedichte geschrieben, um mich heimlich an den guten Fussballern zu rächen.»
Bichsel, der Einzelgänger, was er schon als Kind war, der gerne allein unter Leuten ist, an Bahnhöfen, im Zug, in der Kneipe. «Ein Eremit bin ich aber nicht. Alleine auf der Alp, das ist nicht meine Sache.»
«Die Sprache erzählen lassen»
Eigentlich habe er immer Angst gehabt, sich mit dem Schreiben das Leben zu versauen. Geschrieben hat er dennoch, wobei sein Schreiben dilettantisch geblieben sei, zum Glück, sonst sei man verloren. «Ich kenne keinen anderen Beruf, wo man nicht nur Dilettant sein darf, sondern sein muss!»
Bichsel geht es beim Schreiben um Sprache. «Das Erzählen, nicht sein Inhalt, ist das Ziel der Literatur», betont er. Dass er eine Meinung habe, eine politische zum Beispiel, sich sorge um die «nationale Rücksichtslosigkeit, diese Hau-Ruck-Politik» etwa und über das Leben nachdenke, sei selbstverständlich. Er versuche immer, die Sprache erzählen zu lassen. Seine Geschichten sind in präziser, verknappter Prosa verfasst, haben einen Bichsel-eigenen Tonfall und nehmen häufig eine überraschende Wende.
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Peter Bichsel: «Es geht mir immer um Sprache»
Peter von Matt, Schriftsteller und Germanist, schrieb jüngst in der Schweiz am Sonntag, dass Bichsel nur ausspreche, worüber er lange nachgedacht habe. «Auch seine geschriebenen Sätze haben diesen weiten Weg hinter sich. Deshalb klingen sie so gültig und sind so dauerhaft.»
Der 80-jährige braucht die Spannung zwischen Mundart und dem Neuhochdeutschen. «Ich hätte Mühe, in Berlin oder Hamburg zu schreiben. Das Schreiben eines französischen Schriftstellers, der in haargenau derselben Sprache schreibt, die er spricht, kann ich mir nicht vorstellen.» Da habe er es einfacher als ein Mundartautor. Hochdeutsch sei für ihn nie eine Fremdsprache gewesen, aber «eine etwas fremde Sprache. Doch bei alltäglichen, intimen Sachen wird sie mir fremd. Sich auf Hochdeutsch zu verlieben, ist schwierig».
«Es muss nicht mehr sein»
Unvoreingenommenheit, Offenheit sind dem Schreiber wichtig. So will er kein Beobachter, sondern ein Schauender sein. «Wer beobachtet, kann nicht schreiben. Der Polizist beobachtet, er weiss, was er sehen will. Der Soldat im Krieg beobachtet, er weiss, was er zu beobachten hat, nämlich, ob der Feind kommt. Schauen ist vorurteilslos.»
Bichsels letzte Kolumne ist geschrieben. «Die Dringlichkeit ist weg, es muss nicht mehr sein. Jetzt sitze ich da und warte, ob etwas kommt, vielleicht eine längere Erzählung. Wenn nichts kommt, ist es keine Katastrophe.»
Peter Bichsel
Geboren am 24. März 1935 in Luzern als Sohn eines Eisenbahners, aufgewachsen in Olten.
Lehrerseminar in Solothurn.
Peter Bichsel war 50 Jahre mit der Schauspielerin Therese Spörri verheiratet, die 2005 gestorben ist. Mit ihr hat er einen Sohn und eine Tochter.
Von 1974 bis 1981 war er als Berater und Redenschreiber für SP-Bundesrat Willi Ritschard tätig.
Bichsel schrieb rund 30 Bücher, vor allem Kurzgeschichten und Kolumnen. Sein Debut «Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen» (1964) war ein grosser Erfolg, ebenso seine «Kindergeschichten (1970). In über 40 Jahren schrieb Bichsel gegen 1000 Kolumnen, so in der Weltwoche, im Tagesanzeiger Magazin, in der Gewerkschaftspresse und in der Schweizer Illustrierten.
Peter Bichsel erhielt zahlreiche Preise, z.B. den Literaturpreis der Gruppe 47 (1965), den Deutschen Jugendbuchpreis (1970), den Literaturpreis des Kantons Bern (1978), den Gottfried-Keller-Preis (1999), den Solothurner Literaturpreis (2011) und den grossen Schillerpreis (2012). Seine Bücher wurden ins Französische, Italienische, Englische, Russische und andere Sprachen übersetzt. Er war Gastdozent im In- und Ausland.
Sein neustes Buch «Über das Wetter reden» – Kolumnen 2012-2015, ist bei Suhrkamp erschienen.
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