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Regisseurin Milagros Mumenthaler auf Identitätssuche

"Da ich schon einmal einen Hauptpreis gewonnen habe, kann ich dieses Mal wohl nur verlieren." Milagros Mumenthaler, 39, kehrt mit "La idea de un lago" nach Locarno zurück. pardolive.ch

Im Wettbewerb des diesjährigen Filmfestivals Locarno ist der neue Film "La idea de un lago" der schweizerisch-argentinischen Regisseurin Milagros Mumenthaler gelaufen. Hintergrund ist das Drama um verschwundene Personen während der Militärdiktatur in Argentinien. Doch wer ist eigentlich Milagros Mumenthaler? swissinfo.ch hat die Regisseurin, die 2011 mit "Abrir puertas y ventanas" den Goldenen Leoparden gewann, zum Gespräch getroffen.

Mit fünf Jahren belegte sie Malkurse. Mit zehn Jahren ging sie gemeinsam mit der älteren Schwester ins Kino. Die Eintrittskarten von damals fand sie im Übrigen kürzlich in einer dieser Schachteln, in denen Erwachsene gerne die wichtigsten Dinge des Lebens aufbewahren. Sie wunderte sich selbst, wie viele Filme sie schon als Kind gesehen hatte.                                                                      

«Wahrscheinlich habe ich damals schon meine Liebe zum Film verinnerlicht», sagt Milagros Mumenthaler mit einem Lächeln. Es ist ein Lächeln, das eine gewisse Scheu und Nervosität durchscheinen lässt. «Ich habe nicht auf die Frage geantwortet, nicht wahr?»

Die Regisseurin ist blau gekleidet, von Kopf bis Fuss, jedes Detail stimmt. Sie ist nicht eine Frau, die auf grosse Theorien setzt, nur um dem Gesprächspartner zu gefallen. Sie ist ehrlich und sagt auch gerne mal: «Ich weiss es nicht.»

Wir treffen sie in einer Bar in Locarno. Das Städtchen am Lago Maggiore hat eine grosse Bedeutung für diese Regisseurin. Denn 2011 gewann sie hier mit ihrem ersten Langspielfilm «Abrir puertas y ventanas» (Offene Türen, offene Fenster) den Hauptpreis, den Goldenen Leoparden – ein wichtiger Schub für ihre Karriere in der argentinischen Filmszene.

Dieses Jahr bewirbt sie sich mit ihrem neuen Film «La idea de un lago» erneut um den Goldenen Leoparden. Doch sie bleibt mit beiden Füssen auf dem Boden: «Da ich schon einmal einen Hauptpreis gewonnen habe, kann ich dieses Mal wohl nur verlieren.»

Exil und Rückkehr zu den Wurzeln

Geboren wurde Milagros Mumenthaler 1977 in Cordoba (Argentinien), doch aufgewachsen ist sie in der Schweiz. Ihre Eltern – damals junge, linke Studenten – verliessen das Land, als Milagros gerade mal drei Monate alt war. Ein Jahr zuvor hatte General Jorge Rafael Videla eine blutige Diktatur in Argentinien installiert.

Dass die Wahl ausgerechnet auf die Schweiz fiel, war kein Zufall. Denn die Familie Mumenthaler hatte eine direkte Verbindung zur Eidgenossenschaft. Im 19. Jahrhundert war Milagros Urgrossvater vom Kanton Bern nach Argentinien ausgewandert, um sein Glück in der Fremde zu suchen, genauso wie Tausende anderer Schweizer. So hat sich dann der Schweizer Pass von Generation zu Generation vererbt.

Nach dem Ende der Militärdiktatur im Jahr 1983 entschieden Milagros Eltern, in der Schweiz zu bleiben, wo sie sich mittlerweile ein neues Leben aufgebaut hatten. Im Haus der Familie blieb das Land Argentinien aber stets präsent, angefangen mit dem Spanischen, der gemeinsamen Sprache. Und auch die Ferien am Meer in Mar del Plata waren wie ein Bad in der Vergangenheit, mit Eiscreme, das bei den Grosseltern stets im Gefrierschrank war.

Das Thema «Abwesenheit»  

Die ruhige Art von Milagros Mumenthaler kontrastiert ein wenig mit dem Stereotyp vom aufbrausenden Argentinier. Dabei hat die Regisseurin durchaus etwas von einer rebellischen Jugendlichen. Das zeigt sich in ihren Filmen, in denen immer wieder Konflikte der Hauptfiguren mit der Familie eine Rolle spielen, oder auch ihre Entscheidung, mit 17 Jahren allein in ihr Heimatland Argentinien zurückzukehren. «Manchmal muss man ein wenig auf Distanz gehen, um zu sich selbst zu finden», sagt sie. Es sei kein Trauma gewesen, damals, einfach die Krise einer Heranwachsenden in einer grossen, kinderreichen Familie, in der es ihr zu eng geworden war.

Nach ihrem Abschluss an der Universidad del Cine (Filmschule) in Buenos Aires beschäftigt sich die junge Milagros intensiv mit dem «Thema des Fehlens», der Abwesenheit von etwas. Oder anders gesagt: Die Präsenz der Absenz. Es wird das Hauptthema ihrer beiden Langspielfilme, jeweils vor dem Hintergrund der argentinischen Diktatur. Warum gerade dieses Sujet? Sie kann es sich nicht erklären.

Für den in Locarno präsentierten Film «La idea de un lago» liess sie sich vom Gedicht- und Fotoband «Pozo de aire» von Guadalupe Gaona (Jahrgang 1975) inspirieren. Dieses Werk beeindruckte sie auf Anhieb. Im Film erzählt Milogras Mumenthaler die Geschichte von Ines, einer jungen Fotografin, deren Leben durch das Verschwinden ihres Vaters 1977 während der Militärdiktatur gekennzeichnet ist. Ines ist schwanger. Und bevor sie ihr erstes Kind zur Welt bringt, wendet sie sich – gegen den Willen der Mutter – an das forensische Institut für Anthropologie, um vielleicht eines Tages doch die sterblichen Überreste des Vaters zu finden. 

Inès, die Protagonistin des Films, gespielt von der Argentinieren Carla Crespo. pardolive.ch

Bei ihren Recherchen hat die Regisseurin mehrmals die Schriftstellerin und Fotografin Gaona getroffen, aber auch mit den Müttern der Plaza de Mayo gesprochen, die jeden Mittwoch auf diesem Platz für das Recht auf Wahrheit und Gerechtigkeit demonstrieren. «Ich wollte einfach dieses Thema, das ich nicht aus eigener Erfahrung kannte, besser verstehen lernen», sagt sie.

Der Film ist in keiner Weise autobiografisch. Milagros Mumenthaler gehört nicht zu den Familien, die während der Militärdiktatur Angehörige verloren haben. Rund 30‘000 Menschen sind damals verschwunden. Auch wenn ihre Eltern aus politischen Gründen ins Exil gegangen sind, «ist die Diktatur bei uns zu Hause nie wirklich Gesprächsthema gewesen.» Insofern hat der Film auch bei der Regisseurin etliche Fragen aufgeworfen. «Aber das ist etwas sehr Persönliches», sagt sie.

Hohe Ansprüche  

Was für eine Art Regisseurin ist Milagros Mumenthaler? Sie sei sehr anspruchsvoll, antwortet die argentinische Schauspielerin Rosario Bléfari auf diese Frage während der Medienkonferenz zum Film. Sie spielt die Mutter von Inés.

Und was sagt die Regisseurin selbst zur Frage? «In meinem Film ‹Abrir puertas y ventanas› waren drei Heranwachsende die Hauptfiguren. Und ich musste ihnen stets alles erklären, jeden Satz, jede Absicht. Das war interessant, aber sehr anstrengend. Und ich habe mich gewundert, dass ich diese Übung auch bei diesem neuen Film wiederholen musste», sagt die Regisseurin.

Die Schauspieler mussten die Szenen drei Monate lang proben und wiederholen, bevor es aufs Set ging. Für Milagros Mumenthaler war es entscheidend zu wissen, wie sie ihre Rollen spielen würden, um jedes Detail der Aufnahmen und Dialoge festlegen zu können. «Ich würde sterben, wenn ich ohne Vorbereitung drehen müsste.» Sie ist zweifellos sehr anspruchsvoll: Ganz sicher mit sich selbst.    

Schweizerin oder Argentinierin?

Am Filmfestival Locarno fühlt sich Milagros Mumenthaler ein wenig wie zu Hause. Und das nicht nur, weil sie vor fünf Jahren den Goldenen Leoparden gewonnen hat. «Locarno ist eines der mutigsten Filmfestivals, mit einem Programm, das eine andere Sichtweise auf das Filmschaffen ermöglicht.» Die Regisseurin liebt Filme, die aus dem Rahmen fallen, auch solche, die nicht perfekt sind und «uns genau durch das Imperfekte etwas erzählen.»

Mittlerweile lebt Milagros Mumenthaler seit 20 Jahren wieder in Argentinien. Mit der Schweiz verbindet sie hauptsächlich der Umstand, dass hier ihr Vater und ihre drei Brüder leben.

Ihre Filme werden von der Schweiz aber koproduziert. In Locarno gibt es sogar eine gewisse Konkurrenz der Herkunftsländer Schweiz und Argentinien. «Ich war überrascht, dass Filmfestivaldirektor Chatrian den Film ausschliesslich als Schweizer Film präsentiert hat», sagt sie.

Wahrscheinlich müsse einfach jedes Festival eine bestimmte Quote an einheimischen Produktionen im Programm haben, hält sie fest. Aber sie interessiere sich eigentlich nicht für diese Art von Polemik. «Nicht das Land ist für mich von Bedeutung, sondern die Geschichte, die erzählt wird», meint Milagros Mumenthaler. 

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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