Am Wahltag segeln gehen
Seit er Kinder hat, verfolgt Silvio Huonder die deutsche Politik mit kritischen Augen. Deutschland investiere zu wenig in Bildung und Ökologie, sagt der in Brandenburg lebende Schweizer Autor.
3000 Seen gibt es in Brandenburg. Wer das Glück hat, an einem zu wohnen, besitzt in der Regel ein Boot – es muss kein grosses sein, ein Kanu oder eine Jolle reicht – und durchstreift die unzähligen Wasserwege durch die märkische Seenlandschaft.
Silvio Huonder besitzt einen 20er Jollenkreuzer. Das ist ein knapp acht Meter langes Holzsegelboot aus den 50er-Jahren mit Kajüte. Die Stunden auf dem Wasser versöhnen den Bündner damit, in einem topfebenen Bundesland zu leben. «Ich habe die Vertikale gegen die Horizontale getauscht», sagt der gebürtige Churer. «Das viele Wasser bietet eine Weite, wie sie sonst nur die Berge besitzen.»
Huonder, einem breiten Publikum durch seine vier Romane und einen Erzählband bekannt, lebt seit 20 Jahren in Deutschland. Zuerst in Berlin, wo er an der Hochschule der Künste den Studiengang szenisches Schreiben belegte und mitten in den Trubel der Wende geriet.
Unglaubliche Freiräume seien durch den Mauerfall entstanden, so der 55-Jährige rückblickend. «Berlin verlor seine Strukturen, es war ein Eldorado für Künstler und Kreative aus der ganzen Welt.» Als Huonder nach ein paar Jahren genug hatte von der Grossstadt, zog er zusammen mit seiner Frau an den Schwielowsee unweit von Potsdam, wo die mittlerweile vierköpfige Familie bis heute wohnt.
Mangelhafte Bildungspolitik
«Mein Blick auf Deutschland war lange Zeit der eines Beobachters», sagt Huonder. Vor Ort, aber mit einer inneren Distanz, verfolgte er die Entwicklung und die Politik des geeinten Deutschlands. Heute ist das anders. Am liebsten würde der Schweizer in seiner Wahlheimat mitbestimmen können, so dass er sich überlegt, neben seiner schweizerischen auch die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen.
«Seit ich Kinder habe, blicke ich mit kritischen Augen auf die Bundespolitik», sagt der Vater von zwei Jungen im Alter von 12 und 14. Als Familie sei man viel unmittelbarer von ihren Auswirkungen betroffen. «Spätestens, wenn die Kinder in die Schule kommen, leidet die ganze Familie unter der mangelhaften Bildungspolitik.»
Lehrerknappheit zum Beispiel sei ein grosses Problem in Deutschland. Schon ein Grundschüler bekomme die Konsequenzen davon zu spüren: nur wenige Ganztagesschulen mit einem qualitativ guten Betreuungsangebot, zu grosse Schulklassen, ausgefallene Stunden zuhauf.
Erschreckend findet Huonder auch das Ergebnis der jüngsten PISA-Studie, wonach in Deutschland die soziale Herkunft eines Kindes eine entscheidende Rolle spiele, für welche Schule es eine Empfehlung erhalte. «Kinder aus sozial schwachen Familien zeigen trotz ausreichender Begabung deutlich schwächere Leistungen», sagt Huonder.
Statussymbol Auto
Deutschland als eine der wirtschaftlich stärksten Nationen der Welt investiere zu wenig in die Kinder, so Huonders Urteil. Auf der anderen Seite würden Millionen in die Autoindustrie gesteckt. «Das Auto ist eben in Deutschland immer noch eine heilige Kuh.» Der hohe Stellenwert des Autos in der Gesellschaft erkläre auch den Erfolg der Abwrackprämie, meint der Schweizer.
Bei dieser Massnahme im Konjunkturpaket II der Bundesregierung erhalten Autobesitzer noch bis Ende Jahr 2500 Euro, wenn sie ihren alten Wagen verschrotten und sich ein neues Auto kaufen.
«Die Regierung hat die Abwrackprämie als Rezept gegen die Krise verkauft, dabei ist sie reine Kosmetik», sagt Huonder. Die Krise in der deutschen Autobranche werde lediglich um ein Jahr nach hinten geschoben. Es sei kurzsichtig, in Zeiten der Finanzkrise den Fokus einseitig auf ökonomische Hilfspakete zu richten, Themen wie Bildung oder Ökologie dagegen zu vernachlässigen, so der Schriftsteller.
Merkel macht ratlos
Immerhin sei jetzt die Atompolitik ein Wahlkampfthema. Tatsächlich hat der jüngste Zwischenfall im Atommeiler Krümmel bei Hamburg dazu geführt, dass die Union, die für längere Laufzeiten der Kernkraftwerke plädiert, zunehmend unter Rechtfertigungsdruck gerät, während die Sozialdemokraten sich in ihrer Position des Atomausstiegs bestätigt fühlen und ihn jetzt sogar vorantreiben wollen.
«Die Union bezieht keine klare Stellung, was ihre Energiepolitik betrifft», stellt Huonder fest. Das sei typisch für Angela Merkel. «Ihr Politikstil hat dazu geführt, dass viele Bürger sie sympathisch finden, aber auch ratlos sind, was ihre Positionen anbelangt.»
Trotzdem werde die Bundeskanzlerin am 27. September wohl das Rennen machen. Der Schweizer Autor wird die Bundestagswahl über Radio verfolgen. Und wenn die Resultate zu enttäuschend ausfielen, so Huonder, werde er zur Erholung ein paar Stunden auf seinem Haussee segeln gehen.
Paola Carega, Berlin, swissinfo.ch
Er wurde 1954 in Chur geboren und absolvierte ein Studium an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Graz.
Er arbeitete als Bühnenbildner und Regisseur und studierte Anfang der 90er-Jahre an der Hochschule der Künste (HdK) in Berlin (heute UdK) beim Dramaturgen Heiner Müller Szenisches Schreiben.
Seit drei Jahren ist er neben seiner Tätigkeit als Autor auch Dozent am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel (SLI), wo er das Schreibatelier leitet. Das SLI bietet seit 2006 die schweizweit einzigartige Ausbildung zum Autor oder zur Autorin an.
Silvio Huonder schrieb zahlreiche Theaterstücke und Hörspiele. Einem grösseren Publikum wurde er vor allem durch seine Romane «Adalina» (1997), «Übungsheft der Liebe» (1999) und «Valentinsnacht» (2006) sowie den Erzählungen «Wieder ein Jahr, abends am See» bekannt.
1998 erhielt Huonder den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung für «Adalina», 2005 gewann er mit der Erzählung «Tobi» den MDR-Literaturpreis.
Zuletzt erschien im März 2009 sein Roman «Dicht am Wasser», der in einem kleinen Dorf in seiner Wahlheimat Brandenburg spielt.
Am 27. September sind 62 Millionen Deutsche im In- und Ausland aufgerufen, die Abgeordneten des 17. Deutschen Bundestags zu wählen.
Die Parlamentarierinnen und Parlamentarier werden dann den Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin bestimmen.
Im Parlament sind 598 Sitze zu vergeben.
Bundestagswahlen finden alle 4 Jahre statt.
Zur Zeit sind im Bundestag sechs Parteien vertreten: CDU, CSU, SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen sowie Die Linke.
Am Wahltag stehen 80’000 Wahllokale in 299 Wahlkreisen zur Verfügung.
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