Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Andrea Štakas Filme sprechen die Sprache von Frauen und Migranten

Andrea Staka in Mexico
Andrea Štaka in der Cineteca Nacional in Mexiko Stadt, wo das Filmfestival Black Canvas ausgetragen wird. Flurina Sirenio

Andrea Štaka gilt als wichtigste Gegenwartsregisseurin der Schweiz. Ihr Thema, die Migration, verfängt überall auf der Welt. Auch in Mexiko, wo ihre Filme gerade am Black Canvas Filmfestival zu sehen waren.

Als noch junges Filmfestival fokussiert das «Black Canvas» (deutsch: schwarze Leinwand) in Mexiko Stadt auf Filme und Filmschaffende, die das Publikum mit neuen Themen und filmischen Perspektiven konfrontieren. Andrea Štaka, die in ihren Filmen Geschichten von Migrantinnen erzählt, die den Balanceakt zwischen mehreren Kulturen schaffen müssen, erfüllt dieses Motto in allen ihren Filmen.

Mit der Retrospektive ihres Werks war sie der Hauptgast der sechsten Ausgabe des Festivals vom 30. September bis 9. Oktober, in der die Schweiz als Gastland eingeladen war. Swissinfo hat die Regisseurin am Festivalort, der Cineteca Nacional, in Mexiko-Stadt getroffen.

Andrea Štaka, in Luzern geboren und in Zürich aufgewachsen, schloss 1998 das Studium an der Zürcher Hochschule für Gestaltung und Kunst (heute ZHDK) mit ihrem Film «Hotel Belgrad» ab, der mehrere Preise gewann. Es folgten der in New York gedrehte Dokumentarfilm «Yugodivas» (2000), später die Spielfilme «Das Fräulein» (2006), «Cure – The Life of Another» (2014) und «Mare» (2020). Alle wurden and Festivals uraufgeführt und mit Filmpreisen ausgezeichnet. Andrea Štaka ist Mitinhaberin der Okofilm Productions, die sie gemeinsam mit dem Schweizer Regisseur und Produzenten Thomas Imbach führt. Sie ist als Drehbuchautorin, Regisseurin und Produzentin tätig und unterrichtet an der ZHDK. Štaka lebt in Zürich.

Swissinfo.ch: Sie wurden am Filmfestival Black Canvas in Mexiko Stadt als wichtigste Schweizer Regisseurin angepriesen. Entspricht das Ihrer Selbstwahrnehmung?

Andrea Štaka: Ich sehe mich einfach als wichtige Schweizer Regisseurin. Vielleicht, weil ich in meinen Filmen von Frauen erzähle, die nicht nur eine Kultur und Welt in sich tragen, sondern mehrere. Als ich mit dem Filmemachen anfing, war diese Art von Identitätsfindung nicht sehr präsent im Schweizer Film. 

Wie definieren Sie «wichtige Filmemacherin»? Spielen die Einspielergebnisse oder die Filmkritik die grössere Rolle?

Beides spielt eine Rolle. Aber die wichtigste Referenz ist klar die des Publikums. Ich habe Filme, die gute Zuschauerinnenzahlen hatten, wie «Das Fräulen», und ich habe Filme, die tolle Kritiken hatten und weniger Kinobesuche generierten, wie «Cure – The Life of Another». Oder wie «Mare», der nach drei Tagen Spielzeit wegen des Lockdowns vorerst pausieren musste.

Momentan ändert sich das Konzept der Einspielergebnisse sowieso. Es gehen deutlich weniger Leute ins Kino als vor Corona, man streamt vermehrt Filme zu Hause. Diese Zahlen muss man heute auch einfliessen lassen. Im Idealfall schafft es ein Film, Zuschauer wie Kritik zu überzeugen.

Externer Inhalt

Ihre Filme haben viel Zuspruch vom Publikum gefunden und Preise geerntet, unter anderem von den Filmfestivals in Locarno, Solothurn und Sarajevo. Nun ist die Schweiz Gastland beim Filmfestival Black Canvas und Ihre Filme werden als Retrospektive gezeigt. Ihr Medienauftritt ist jedoch diskret, man könnte Sie als Low-Profile-Filmemacherin bezeichnen. Warum?

Als Regisseurin exponiere ich mich durch meine Filme genug. Zudem bin ich schüchterner, als man mich einschätzt. Es gibt Augenblicke, da bin ich sehr stolz auf einen Film und klopfe mir auf die Schulter. Aber es gibt auch genug Momente, in denen ich zweifle und meine Arbeit hinterfrage.

Ihre Protagonistinnen sind oft zwischen zwei Kulturen hin- und hergerissen. Die westeuropäische gibt ihnen finanzielle Stabilität, die südosteuropäische ist ihre Heimat. Da gibt es viele Parallelen zu Mexiko.

Absolut. Als ich in der Cineteca Nacional «Mare» nach längerer Zeit wieder im Kinosaal mit Publikum anschaute, merkte ich, dass die Handlung ebenso gut in den Aussenquartieren von Mexiko Stadt spielen könne.

Konavle, wo sich der Flughafen von Dubrovnik befindet und «Mare» spielt, ist ein schöner und sehr rauer Ort. Eine Art Unort, weder Stadt noch Land. Aber mich hat vor allem die Hauptfigur Mare an eine Frau und Mutter erinnert, die auch in Mexiko leben könnte.

Wie Mare im Film, die mit dem Geld, das sie in der Schweiz verdient hat, ihren Eltern in Kroatien zu einem Haus verhalf, arbeiten zahlreiche mexikanische Frauen in den USA und schicken ihren Familien Geld, haben aber oft keines mehr, wenn sie zurückkehren. Es sind Fragen über Familie, finanzielle Sicherheit, Identitätssuche, Sexualität, Alltag, die an viele Orte gehören.

Andrea Štaka, Cyril Schäublin und Alain Berset an der Eröffnung des Black Canvas Festivals.
Andrea Štaka, der Schweizer Regisseur Cyril Schäublin und Bundesrat Alain Berset an der Eröffnung des Black Canvas Festivals. Ixnic Kasiopea

Kann man die Retrospektive Ihrer Filme in Mexiko als Export Ihres Verarbeitungsansatzes einer multikultureller Identität sehen?

Ja, durchaus. Viele Menschen in Mexiko leben in täglicher Existenzkrise wie einige meiner Filmfiguren. Auch den gewalttätigen Konflikt, der meine Protagonistinnen prägt, gibt es in Mexiko.

In Kroatien sind sie ein Resultat der patriarchalischen Gesellschaft und des Krieges. Hinsichtlich Mexiko bin ich keine Expertin, aber ich weiss, dass das Land eine der höchsten Femizid-Raten hat. Das hat mich berührt. Vor meinem Hotel im Zentrum von Mexiko Stadt stand früher eine Statue von Christoph Kolumbus, heute steht dort eine Skulptur, die Frauen aufgestellt haben, um auf das Thema der indigenen Frauen aufmerksam zu machen.

Sie gehören zur ersten Generation von Schweizer Filmschaffenden, die das Thema Migration im Film thematisierten. 

Bevor ich 2006 «Das Fräulein» gedreht habe, war das Thema Migration wenig präsent in den Medien und wurde sehr eindimensional behandelt. Als der Krieg in den 1990er-Jahren im ehemaligen Jugoslawien ausbrach, wurden im Fernsehen ausschliesslich Bilder von kriegenden, primitiven Männern und weinenden Frauen gezeigt.

Ich empfand diese Darstellung von Krieg und Not als Affront und zu eindimensional. Damals begann ich, Filme zu machen, um genau diese Bilder zu durchbrechen, zu ändern.

Trägt unser gesellschaftliches Verständnis, das die Zugehörigkeit zu einer einzigen Kultur fordert, zur Zerrissenheit von Migranten und deren Kindern bei? 

Das Zusammenleben in einer Gesellschaft ist immer in Bewegung. Die Erwartung der Schweizer Gesellschaft an Einwanderer ist aber leider immer noch zu statisch. Es herrschen genaue Erwartungen, wie die Zuwanderer sich verhalten und anpassen müssen. Erwartungen, die fast nicht zu erfüllen sind.

Viele setzen sich unter Stress, weil sie der perfekte Schweizer, die perfekte Schweizerin werden wollen. Dabei besteht die Schweizer Gesellschaft zu einem markanten Teil aus Zugewanderten und deren Nachkommen. Auch sie repräsentieren die Schweiz, egal, ob sie Schweizerdeutsch mit oder ohne ausländischen Akzent sprechen. Sie und wir sind die neue Schweizer Gesellschaft. Eine vielfältige, durchmischte. Und das passt.

Externer Inhalt

Sie sind in der Schweiz mit einer bosnischen Mutter und einem kroatischen Vater aufgewachsen. Wie haben Sie das persönlich erlebt?

Es ist ein schönes Wechselbad der Gefühle. Manchmal bin ich zerrissen, oft merke ich, wie sich die beiden Kulturen ideal ergänzen. Grundsätzlich empfinde ich es als Bereicherung.

Die meisten Ihrer Protagonist:innen sind Frauen, was auffällt, weil in Filmen immer noch mehr Männer als Frauen die Hauptrolle spielen. Sie sagen selber, sie haben sich deswegen schon rechtfertigen müssen.

Ja, man fragte mich, warum meine Protagonist:innen Frauen sind. Ich erzähle in erster Linie über Menschen und als Frau liegen mir Geschichten von Frauen nahe. Dass Protagonistinnen immer noch in der Minderheit sind, liegt sicher auch am Mangel von Vorbildern. Sowohl an Regisseurinnen wie Filmfiguren. Aber zum Glück ändert sich das gerade rasant. 


Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft