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«Eine nicht umerziehbare Frau»

Mit ihrer nüchternen Interpretation spielt die deutsche Schauspielerin Kornelia Lüdorff ein Stück, in dem viele Zuschauer dramatische Übertreibungen vermuten, auch wenn die Schrecken des Tschetschenienkrieges das Verständnis übersteigen. Annette Boutellier

Ein Berner Theater erweist der russischen Journalistin Anna Politkowskaja, die vor zehn Jahren in Moskau erschossen wurde, die Ehre. Ein Theaterstück und ein Film regen zum Nachdenken über den Journalismus und die Pressefreiheit in Russland an.

Im Westen ist der Name Anna Politkowskaja sehr bekannt. Er steht für unabhängigen Journalismus, Unerschrockenheit und mutige Opposition gegenüber der Macht, was diese Frau schliesslich das Leben kostete. Konzert Theater BernExterner Link widmet ihrem Andenken zwei Projekte. Das Publikum wird eingeladen, nachzudenken über die Arbeit des Journalismus in der heutigen Welt, die Pressefreiheit, die Neutralität und den Aktivismus wie auch über den Gegensatz zwischen dem einzelnen Menschen und der Macht.

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Kein Artikel zuviel über Anna Politkowskaja

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht «Ein Artikel zuviel – der Mord an Anna Politkowskaja» ist die Annäherung an eine starke Frau auf ihrer unbeirrbaren Mission. Er wird am 18. Februar am Schweizer Fernsehen gezeigt. swissinfo: Wissen Sie heute Näheres, wer Anna Politkowskaja ermordet hat und wer die Auftraggeber waren? Eric Bergkraut: Interessant ist die Frage, wer hinter dem Mord steht,…

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Eigentlich hätten die beiden Veranstaltungen im vergangenen Oktober über die Bühne gehen sollen, weil die amerikanisch-russische Journalistin am 7. Oktober 2006 in Moskau ermordet worden war. «Aus verschiedenen Gründen wurden sie auf Januar 2017 verschoben», sagt Michael Gmaj, Dramaturg des Theaters.

m 5. Januar wurde in Bern «Brief an Anna»Externer Link des Schweizer Regisseurs Eric Bergkraut gezeigt. Der Dokumentarfilm geht den Umständen des Todes von Anna Politkowskaja nach, umreisst ihr Leben und erzählt über ihre Arbeit als Menschenrechts-Journalistin in ihren letzten Lebensjahren.

Im Film zu sehen sind auch Ausschnitte aus Interviews mit Politkowskaja auf der Redaktion der Nowaja Gaseta – die investigative Zeitung, bei der sie arbeitete –, Videos von ihrer letzten Reise nach Genf im Jahr 2004 und Gespräche mit Verwandten und Kollegen.

Die Ko-Autorin des Films, Thérèse Obrecht, gehörte zu den Gesprächspartnern von Michael Gmaj an einer Podiumsdiskussion gleich nach der Filmvorführung. Sie war Moskau-Korrespondentin des Westschweizer Fernsehens TSR (heute RTS) während der 1990er-Jahre und ist heute Präsidentin der Schweizer Sektion von Reporter ohne Grenzen. Die Runde diskutierte über den Journalismus und die Äusserungsfreiheit im heutigen Russland.

Zainab Gashaeva, eine 2010 in die Schweiz geflohene Menschenrechts-Aktivistin aus Tschetschenien, diskutierte ebenfalls mit. Die Videoaufzeichnungen dieser Frau während der beiden Tschetschenien-Kriege ermöglichten den Aufbau des Tschetschenien-ArchivsExterner Link, das in Bern angesiedelt ist. Sie war es auch, die Eric Bergkraut mit Anna Politkowskaja bekanntmachte. «Zainab und Anna sind für mich Heldinnen», erkläre dieser einmal. «Nicht nur wegen des dokumentarischen Materials, das sie gesammelt haben, sondern auch wegen ihres persönlichen Mutes.»

Hommage im Theater

«Anna Politkowskaja war eine der furchtlosesten Reporterinnen und Menschenrechtsaktivistinnen Russlands. Als Kriegsberichterstatterin in Tschetschenien brachte sie durch ihre Reportagen über Verbrechen der russischen Armee, Korruption, Folter und paramilitärische Kriegsführung die russische Regierung gegen sich auf», schreibt das Berner Theater auf seiner Website zur Aufführung «Anna Politkowskaja – eine nicht umerziehbare Frau»Externer Link.

Politkowskaja wurde «nach mehreren Morddrohungen im Treppenhaus ihrer Moskauer Wohnung umgebracht – am Geburtstag des russischen Präsidenten Putin. Fast auf den Tag zehn Jahre danach präsentieren wir die Schweizer Erstaufführung des Theater-Memorandums über diese furchtlose Frau», heisst es weiter.

Regie führt Stefano Massini. Der italienische Dramaturg hat dieses Stück 2007 für eine einzige Schauspielerin geschrieben. Das Werk wurde daraufhin ins Französische, Deutsche und Englische übersetzt und in zahlreichen Theatern in Europa und den USA aufgeführt. Einige Produktionen führten kurze Dialoge ein, in denen andere Personen intervenieren. In Bern übernimmt die Deutsche Kornelia Lüdorff die Rolle Politkowskajas.

Das Stück erzählt weder die Biografie der Journalistin, noch stützt es sich auf ihre Bücher oder Artikel. Vielmehr zeichnet es die Problematik der journalistischen Arbeit im Rahmen eines bewaffneten Konflikts nach, in diesem Fall des Tschetschenienkriegs.

Starke Wirkung

Das Publikum hatte allerdings Mühe, zu glauben, dass die Vorführung nicht auch auf künstlerische Übertreibungen zurückgreift, wie etwa im Fall jenes Dialogs zwischen der Journalistin und einem russischen Soldaten:

«Wie viele Menschen hast Du getötet?»

«Ich kenne die Zahlen sehr gut. Jeder von uns muss drei bis vier Personen pro Tag töten.»

«Und das schafft Ihr?»

«Wir haben spezielle Techniken: Wir gehen in ein Dorf, binden ein Dutzend Menschen zusammen, schmeissen eine Handgranate in die Mitte… und Bumm!»

Ob solche Gespräche wirklich wahrheitsgetreu seien, will ein Zuschauer wissen. Als Antwort erzählt Zainab Gashaeva, was sie selbst während des Krieges erlitten und was für Szenen sie erlebt hat.

«Zu welcher Seite gehören Sie, Frau Politkowskaja? Zu den Russen oder den Tschetschenen? Zur Armee oder zu den Terroristen?» Auf diese Fragen muss die Heldin des Theaterstücks versuchen, Antworten zu finden. Stefano Massini will aber keine Märtyrerin aus seiner Hauptfigur machen, und Kornelia Ludorff zeigt in ihrem Spiel grosse Zurückhaltung. Der dramatische Aspekt des Stücks bleibt verborgen, was vielleicht erklärt, warum dieses bei den Zuschauern einen derart starken Eindruck hinterlässt.

An die Grenzen des Journalismus

Doch sind die Arbeit und das Leben von Anna Politkowskaja überhaupt noch Journalismus, oder sprengen sie diesen Rahmen, fragte Michael Gmaj seine Gesprächspartner. «Für die westliche Gesellschaft handelt es sich überhaupt nicht um Journalismus, wir kennen keine solchen Praktiken», erklärte Thérèse Obrecht. «Aber in den meisten Diktaturen ist die Arbeit des Journalisten anders als bei uns. Sie riskieren auf der Suche nach der Wahrheit wirklich ihr Leben.»

Auch Luzia Tschirky, die als Moskau-Korrespondentin für Schweizer Radio und Fernsehen SRF gearbeitet hat, äusserte sich in der Diskussion: «Für mich ist der Fall von Anna Politkowskaja klar ein Beispiel für Journalismus, aber er ist im Westen schwierig zu verstehen. Unter den russischen Journalisten, die ich kenne, besonders unter den Jungen, herrscht die Meinung vor, dass man in Kriegszeiten nicht neutral bleiben kann. Doch diese Haltung kann natürlich nicht mit der Art und Weise verglichen werden, wie die Medien in der Schweiz arbeiten.»

Thérèse Obrecht sprach auch über die Pressefreiheit, namentlich über die Zeit, als sie in dem 1990er-Jahren in Russland lebte. Zu Beginn jenes Jahrzehnts sei die Propaganda noch die Norm gewesen, während später eine Zeit der grösseren Freiheit gekommen sei. «Damals entstanden einige wirklich freie Informationsquellen. Doch zehn Jahre später wurde der Journalismus schon wieder gefährlich», so Obrecht.

«Sollte gegenwärtig eine freie Presse existieren, ist das nur im Internet und teilweise im Radio der Fall», betonte sie. «Die Russen erhalten ihre Informationen via Fernsehen, und wie mir meine Journalisten-Kollegen sagen, hat die TV-Propaganda zugenommen. So ist eine Mehrheit der Russen der Meinung, in Kiew herrsche ein faschistisches Regime und der russische Doping-Skandal sei nichts Weiteres als westliche Propaganda, weil dieser den Russen ihre Medaillen nicht gönne.»


(Übertragen aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

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