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Annette Giacometti – Ehefrau, Modell und Muse von Alberto

Annette und Alberto Giacometti in ihrem Atelier 1951
Annette und Alberto Giacometti in ihrem Atelier 1951. Das heute im Institut Giacometti rekonstruierte Atelier wird 2026 in die Mauern des zukünftigen Musée Giacometti an der Esplanade des Invalides in Paris einziehen. Alexander Liberman/fondation-giacometti

Das Institut Giacometti in Paris feiert den 100. Geburtstag von Annette Giacometti, Frau und Modell des Schweizer Künstlers. Sie ist auch die Archivarin seines immensen Werks, das ab 2026 in einem brandneuen Giacometti-Museum in Paris zu sehen sein wird.

Knapp 23 gemeinsame Jahre (1943 bis 1966), in freier und ungezwungener Ehe ohne Kinder: Das Ehepaar Alberto und Annette Giacometti war nicht gerade ein Traum für die Anhänger der traditionellen Familie, von denen es in jenen Jahren noch viele gab.

Doch auf künstlerischer Ebene war die Treue der beiden zueinander absolut. Ab 1943 wurde Annette praktisch das einzige Modell, zumindest das einzige Aktmodell, des Bündner Künstlers. Und nach Albertos Tod sammelte Annette sein Werk mit bewundernswerter Beharrlichkeit.

Annette Arm war zwanzig, Alberto Giacometti 42 Jahre alt, als sie sich mitten im Krieg in einer Brasserie an der Place du Molard in Genf trafen, wohin Alberto, geboren in Stampa in Graubünden aber adoptierter Pariser, 1942 flüchtete.

Der Flirt mit Giacometti war kein Zuckerschlecken. Der Bildhauer teilte ihr gleich zu Beginn mit, dass er weiterhin mit seiner «Ex» Isabel zusammen war, jedoch beruhigte er Annette: «Ich sehe Isabel oft, aber jeder für sich, komplizierter als alles hier, oh nein, das schöne Leben zwischen uns beiden, Sie und ich.»

«Eine hoffnungslose Unterkunft»

Eine Skulptur der Büste von Annette Giacometti von Alberto Giacometti
Alberto Giacometti, «Petit buste d’Annette» (um 1946), bemalter Gips, 19 x 15,9 x 9,6 cm. © Fondation Giacometti Succession Alberto Giacometti / ADAGP Paris 2023

Annette liess sich nicht entmutigen. Auch nicht, als sie im Juli 1946 Albertos winziges Atelier in Paris entdeckte.

Die Schriftstellerin und Vorkämpferin für den Feminismus Simone de Beauvoir, die beide gut kannte, «bewundert [diese] sehr junge Frau dafür, dass sie dieses Leben akzeptiert; nach ihrem Tag als Sekretärin findet sie bei ihrer Rückkehr diese hoffnungslose Unterkunft, sie hat keinen Wintermantel und trägt ausgelatschte Schuhe. Um bei ihm zu leben, hat sie ihre Familie und alles in der Welt verlassen; sie ist sehr nett. Er ist ihr sehr zugetan, aber da er kein zärtlicher Mensch ist, macht sie eine schwere Zeit durch».

1948 gab Annette ihre Arbeit als Sekretärin auf, um sich ganz ihrer Rolle als Modell zu widmen. Und «für den Künstler zu posieren, ist kein Kinderspiel», schreibt Thierry Pautot, Kurator der Ausstellung im Institut GiacomettiExterner Link. «Er ist sehr anspruchsvoll, duldet nicht die geringste Bewegung, und die Modelle wohnen stundenlang den Qualen des Schaffens bei.»

Von Paris nach Stampa

Zeichnungen, Gemälde und Bronzen folgen aufeinander, in denen wir Annettes Silhouette wiederfinden. «Ziemlich athletischer Körperbau, gut gebaute Taille, hübsche Hüften, etwas herabhängende Brüste, schlanker Hals, ovaler Kopf», wie Pautot sie beschreibt.

Ein Gemälde von Alberto Giacomettis nackter Ehefrah Annette Giacommetti
Alberto Giacometti, «Stehender Akt» (1961), Öl auf Leinwand. © Fondation Giacometti Succession Alberto Giacometti / ADAGP Paris 2023

Annette wurde zur Muse, zum weiblichen Ideal des zwanghaft arbeitenden Giacometti. Wie Pautot berichtet, verlor Giacometti vor lauter täglich und nächtlichem Malen und Skulptieren ein wenig den Sinn für die Realität.

Abends im Café traf Giacometti Annette, die er den ganzen Tag über posieren liess. Der Künstler fragte sie: «Wie geht es dir? Wir haben uns den ganzen Tag nicht gesehen.» «Doch, ich habe dir stundenlang Modell gestanden!» Giacometti malte seine Muse, nicht seine Frau, sagt Pautot.

Als die beiden 1949 heirateten, konnte er Annette endlich seiner Mutter Annetta vorstellen, die bei den Anstandsregeln keine Kompromisse einging. In Stampa bereitete Annetta ihrer Schwiegertochter dennoch einen ausgezeichneten Empfang.

Sie schrieb an Annette, Alberto und an seinen unzertrennlichen Bruder Diego: «Ich freue mich zu wissen, dass ihr alle drei von euren Werken begeistert seid. Ich sage: eure Werke, weil ich sowohl den Stern als auch die beiden Satelliten sehe, die von ihrer Arbeit begeistert sind.»

Kein bisschen eifersüchtig

«Satellit», aber deshalb nicht unterwürfig. Annette führte ihr eigenes Liebesleben, unter anderem mit dem japanischen Philosophen und Kunstkritiker Isaku Yanaihara, der ein grosser Bewunderer Giacomettis war.

Als der junge Japaner ihm sein «Verbrechen» gestand, antwortete Alberto: «Nichts ist mir fremder als die Eifersucht. Dieses Gefühl, das den Ehemann, die Ehefrau oder den Geliebten zu etwas Eigenem macht, das die Menschen wie Dinge besitzen will, das sie beherrschen und in Ketten legen will… Es gibt keinen schlimmeren Angriff auf die Freiheit.»

Kurzum, bei Giacometti herrschte freie Liebe, aber Gehorsamkeit, wenn es darum ging, für ihn Modell zu stehen. Selbst als Annette sich von ihm distanzierte und in einen anderen Teil von Paris zog, folgte sie ihm überall hin. Im Jahr 1965 bis nach New York, wo ein kranker Giacometti seine Werke im Museum of Modern Art ausstellte.

Nach dem Tod des Künstlers Anfang 1966 begann Annette, die Werke zusammenzustellen und einen Katalog anzufertigen. Sie liess die Wände des kleinen Ateliers im 14. Arrondissement von Paris abreissen und legte den Grundstein für eine Alberto-und-Annette-Giacometti-Stiftung.

Ein künftiges grosses Museum

Das Atelier hat seine Reise noch nicht beendet: Heute wird es im Institut Giacometti rekonstruiert und 2026 in das zukünftige Giacometti-Museum umziehen. Sein bescheidenes, aber charmantes 14.Arrondissement verlassen, um auf der Esplanade des Invalides zu thronen.

Dort, in einem wunderschönen Gebäude aus dem Jahr 1900, das für die Weltausstellung errichtet und später zu einem Bahnhof und dem Sitz von Air France wurde, wird das zukünftige Museum untergebracht werden.

Gebäude des zukünftigen Giacometti-Museums
In diesem Gebäude aus dem Jahr 1900, errichtet für die Weltausstellung in Paris, wird ab 2026 das Musée Giacometti seinen Sitz haben. Mathieu van Berchem

«Mit über 10’000 Werken bewahrt die Stiftung zusammen mit dem Kunsthaus Zürich die grösste Giacometti-Sammlung auf», sagt die Generalsekretärin der Stiftung, Soizic Wattinne. Das kleine Giacometti-Institut in Paris mit seinen 350 m² reicht angesichts der anhaltenden Begeisterung für seine Werke nicht mehr aus.

Der ehemalige Invalidenbahnhof wird 7000 m² für Ausstellungen, eine Schule und die Büros der Stiftung bieten. Im Herzen des «Goldenen Dreiecks» der Pariser Museen (Grand Palais, Musée d’Orsay usw.) verspricht die künftige Einrichtung eine gute Besucher:innenzahl.

«Das Gebäude ist schön, aber in sehr schlechtem Zustand. Es wird neu gestaltet werden müssen, wobei die heutigen Standards einzuhalten sind, besonders in Hinblick auf den Umweltschutz.», sagt Wattinne.

Es ist nicht bekannt, ob die 1993 verstorbene Annette, welche die etwas raue, aber warme Atmosphäre des Ateliers in der Rue Hippolyte-Maindron kannte, es begrüsst hätte, ihren Mann im Herzen des flamboyanten Paris ausgestellt zu sehen.

Übertragung aus dem Französischen: Claire Micallef

Ausstellung: Annette en plus infinimentExterner Link, im Institut Giacometti in Paris, bis zum 27. September 2023.

Übertragung aus dem Französischen: Claire Micallef

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