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Arabisches Volksepos mit Blitz und Donner in Zürich

Konzert mit Sayyed el-Dawwy vor begeistertem Publikum in Zürich. Susanne Schanda

Sayyed el-Dawwy, der letzte grosse Interpret des arabischen Sira-Epos, hat das Publikum am Zürcher Theaterspektakel in den Bann seiner melodiösen Rezitation gezogen. Sein Vortrag auf der Seebühne wurde von einem heftigen Gewitter begleitet.

Windböen wehen den Regen seitlich auf die gedeckte Tribüne, Blitz und Donner bilden den dramatischen Auftakt zum Konzert von Sayyed el-Dawwy und seinen Musikern. Der 80-jährige Dichter-Poet setzt sich in seinem langen braunen Gewand auf seinen Stuhl, als wäre er wie gewohnt in einer staubtrockenen ägyptischen Kleinstadt.

Direkt hinter ihm hat sein 27-jähriger Enkel Ramadan als mittlerer der fünf Musiker Platz genommen. Er soll die Tradition der Sira-Rezitation von seinem Grossvater einmal weiterführen und damit vor dem Aussterben retten.

Davon handelt der Dokumentarfilm «Sira – Wenn der Halbmond spricht» von Sandra Gysi und Ahmed Abdel Mohsen, der jetzt in die Deutschschweizer Kinos kommt.

Sayyed al-Dawwy tritt zum ersten Mal in Europa auf. Seine Kunst, das Rezitieren und Interpretieren des monumentalen Heldenepos «Sira», ist in der arabischen Welt legendär. Dennoch werden öffentliche Aufführungen, etwa bei Hochzeiten und anderen Festen, immer seltener.

Die Geburt eines Helden

Das ganze Epos um einen arabischen Wüstenstamm umfasst fünf Millionen Verse. Al-Dawwy, der nie lesen und schreiben gelernt hat, ist der letzte lebende Interpret, der das ganze Werk auswendig rezitieren kann. Dies würde allerdings mehrere Tage dauern.

In Zürich beschränkt er sich auf den Mythos der Geburt von Abu Zaid, dem Helden dieser orientalischen Odyssee aus dem 11. Jahrhundert: Als Khadra, die Ehefrau eines Prinzen auf der arabischen Halbinsel, nach der Geburt eines Mädchens lange nicht mehr schwanger wird, pilgert sie zusammen mit anderen Frauen ihres Stammes zum Vogelsee, auch Wunschsee genannt. Dort sieht sie einen starken, schwarzen Vogel, der alle anderen besiegt. Sie wünscht sich ein Kind mit seinen Eigenschaften.

Als sie neun Monate später einen schwarzen Jungen zur Welt bringt, beschuldigt ihr Mann sie des Ehebruchs mit einem schwarzen Sklaven und verstösst sie. Im Exil erzieht sie ihren Sohn zu einem starken Krieger, der später zum Helden aller Araber werden sollte.

Epos mit Variationen

In klagendem Gesang trägt Sayyed al-Dawwy die erste Episode der Geschichte vor, musikalisch begleitet von drei Rababas (ägyptisches Saiteninstrument) und den traditionellen Rhythmus-Instrumenten Duff und Tabla. Dann gibt er den Musikern ein Handzeichen, aufhören und schiebt eine erzählende Passage ein.

Die «Sira» ist ein lebendiges Epos, das nur mündlich überliefert ist und im Gegensatz zum schriftlich festgehaltenen Koran Interpretationen, Ausschmückungen und Kürzungen zulässt.

Bei den Dreharbeiten zum Dokumentarfilm über Sayyed el-Dawwy vor drei Jahren hat der Interpret den Auftritt des amerikanischen Präsidenten Barack Obama in Kairo in sein Programm eingebaut und darüber reflektiert, ob dieser wohl zu einem neuen Helden der Araber werden könne – schwarz wie der Originalheld Abu Zaid sei er immerhin.

In Ägyptens Alltag gegenwärtig

Die Schweizer Ethnologin und Filmemacherin Sandra Gysi, die den Film zusammen mit dem ägyptischen Regisseur Ahmed Abdel Mohsen realisiert hat, ist in Ägypten immer wieder auf Anspielungen und Namen aus dem Epos gestossen, wie sie gegenüber swissinfo sagt.

«In Alltagsgesprächen beziehen sich die Leute gerne auf Episoden oder Personen aus der Sira, wenn sie die Wichtigkeit des Gesagten betonen wollen.» Die Fähigkeit zur Rezitation habe sie in der arabischen Welt schon immer beeindruckt. Sie sei äusserst zufrieden gewesen, als sie das Vertrauen des alten Meisters gewinnen konnten und ihn filmisch begleiten durften.

Für Sandro Lunin, den Direktor des Zürcher Theaterspektakel, ist der Auftritt Sayyed al-Dawwys und seiner Truppe ein Glücksfall: «Dieses Konzert mit seinen vorwiegend alten Musikern aus Ägyptens Provinz ist ein einzigartiger Kontrapunkt zu den vielen jungen Künstlern aus dem urbanen Milieu am Theaterspektakel.»

Grandioses Finale

Inzwischen breiten sich die Regenpfützen auch um die Musiker auf der Bühne aus. Plötzlich steigt der Verstärker aus, und der Ton fällt in sich zusammen.

Unbeeindruckt von solch technischen Pannen erheben Sänger und Musiker ihre Stimmen und fiedeln wild entschlossen einem grandiosen Finale entgegen.

Das internationale Theaterfestival am Zürichsee findet vom 18. August bis 4. September 2011 statt.

Es präsentiert gegen 30 Gruppen und Einzelkünstler aus der internationalen Theater-, Tanz- und Performance-Szene.

Zahlreiche Produktionen bewegen sich im Schnittfeld verschiedener künstlerischer Ausdrucksformen.

Unter dem Eindruck der Revolutionen im arabischen Raum werden dieses Jahr zahlreiche Produktionen aus Nordafrika und dem Nahen Osten präsentiert.

Ausserdem sind Stücke aus Lateinamerika und Europa zu sehen, die sich mit den aktuellen politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen künstlerisch auseinandersetzen.

Das Theater Spektakel ist eine Veranstaltung von Stadt Zürich Kultur und wird von der Zürcher Kantonalbank, Swiss Re und Kanton Zürich sowie dem Tages-Anzeiger als Medienpartner unterstützt.

Der Dokumentarfilm um den 80-jährigen ägyptischen Sänger-Poeten Sayyed el-Dawwy erzählt von der mündlichen Überlieferung eines monumentalen arabischen Volksepos und dem Ringen um Modernität im heutigen Ägypten.

Sayyed el-Dawwy kennt 5 Millionen Verse auswendig und will die Tradition an seinen Enkel Ramadan weitergeben. Das treibt den jungen Mann in den Konflikt zwischen familiärer Verpflichtung und individueller Freiheit.

Das schweizerisch-ägyptische Filmteam um Sandra Gysi und Ahmed Abdel Mohsen hat Sayyed und Ramadan auf ihren Konzerttourneen durch Ägypten begleitet und zur Entstehung, Überlieferung und Funktion des Epos befragt.

Ab dem 25. August 2011 läuft der Film «Sira – Wenn der Halbmond spricht» in den Deutschschweizer Kinos.

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