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Archäologie im Futur II: Wie man 4023 unsere Welt sieht

Nachbildung einer Raum-Zeit-Kapsel
Um die archäologische Ausstellung von 4023 zu betreten, müssen die Besucher:innen kurz in eine Raum-Zeit-Kapsel steigen. © Musée romain de Lausanne-Vidy Photo Arnaud Conne

Wie werden die Archäolog:innen der Zukunft die Gegenstände unseres Alltags sehen? Das Musée romain de Lausanne-Vidy liefert mit "Retour vers le futur antérieur" mögliche Antworten – eine Ausstellung mit Witz, die zum Nachdenken über die Archäologie anregt.

Die Sonderausstellung in Lausanne bietet nichts weniger als eine Zeitreise. Um sich darauf einzustimmen, wird das Publikum zunächst durch eine Art Raum-Zeit-Kabine geschleust. Die Türen schliessen sich im Jahr 2023 und öffnen sich kurz darauf zu einem Ausstellungsraum im Jahr… 4023.

Auf den ersten Blick ist nichts allzu Überraschendes zu sehen. In einer völlig weissen Umgebung folgen Vitrinen mit leicht erkennbaren Gegenständen aufeinander.

Die Überraschung kommt erst, wenn man die Erklärungen zu den Objekten liest. So werden etwa Hülsen von Gewehrpatronen als Miniaturflaschen präsentiert. Oder einfache Münzen werden zu «indigenen Faustkeilen».

Die gesamte Ausstellung spielt mit dieser Diskrepanz zwischen unserer Kenntnis von Alltagsgegenständen und ihrer Interpretation durch Archäolog:innen der Zukunft.

Keine exakte Wissenschaft

Wenn das erste Amüsement verflogen ist, wirft die Ausstellung jedoch eine echte Frage auf. Wenn die Fehlinterpretation unserer Alltagsgegenstände durch hypothetische Archäolog:innen aus der Zukunft glaubwürdig erscheint, wie glaubwürdig ist dann die Interpretation der Artefakte aus der Vergangenheit durch unsere heutigen Archäolog:innen?

«Die Ausstellung soll gerade die Grenzen der archäologischen Interpretation aufzeigen», sagt die Archäologin Sophie Weber, Konservatorin am Musée Romain de Vidy-Lausanne. «Die Archäologie ist eine Geisteswissenschaft, keine exakte Wissenschaft. Sie ist zwangsläufig empirisch und subjektiv; sie ist der Beitrag eines Menschen, der zwangsläufig von seiner Zeit und seinen Erfahrungen geprägt ist.»

Sie fährt fort: «Das Ziel ist nicht, zu verunglimpfen, sondern zu zeigen, wie gründlich eine archäologische Untersuchung sein muss und dass man bei Interpretationen bescheiden bleiben sollte. Die Pfahlbauer:innen sind ein sehr gutes Beispiel.

Früher schloss man aus dem Vorhandensein von Holzpfählen in Seen, dass ihre Häuser auf dem Wasser gebaut waren. Heute weiss man jedoch, dass die Häuser am Ufer gebaut waren und die Pfähle aufgrund des steigenden Wassers unter Wasser gesetzt wurden.»

Die Interpretation archäologischer Überreste ist mehr oder weniger einfach, je nachdem, ob es noch andere Quellen gibt. So ist es zum Beispiel recht einfach, die Bedeutung einer Töpferware, die den Sturz des Ikarus darstellt, zu verstehen, da die Erzählung dieses griechischen Mythos in schriftlicher Form überliefert ist. Die Bedeutung oder Funktion einer prähistorischen Höhlenmalerei zu verstehen, erweist sich dagegen als komplizierter.

Gesellschaft mit Amnesie

Bevor die Besucher:innen wieder in die Raumzeitkapsel steigen, begegnen sie in der Ausstellung auch dem Thema der Lebensdauer von Gegenständen. Je nach verwendetem Material – etwa Kunststoff oder Synthetik – werden viele von ihnen die Zeit nicht überdauern, jedenfalls nicht so gut wie Gegenstände aus Metall, Keramik oder Glas.

Hinzu kommt, dass auch die Dokumente, die ihren Kontext erhellen, zerbrechlicher geworden sind. «Das Pergament von früher überdauert die Jahrhunderte viel besser als das Papier von heute, das aus Zellulose hergestellt wird. Und dabei ist das ganze Problem der Haltbarkeit digitaler Medien noch gar nicht berücksichtigt», warnt Weber.

Sie fügt hinzu: «Wir haben noch nie so viele Objekte und Informationen produziert, aber ich habe den Eindruck, dass weniger Spuren als früher übrigbleiben werden. Das ist wirklich das ganze Paradoxon unserer Zeit. Wir steuern geradewegs auf eine Gesellschaft mit Amnesie zu».

Die Ausstellung

Die Ausstellung vers le futur antérieur ist bis zum 24. September 2023 im Musée romain de Lausanne-VidyExterner Link zu sehen.

Sie war vor zwei Jahrzehnten von Laurent Flutsch, dem ehemaligen Direktor des Museums, konzipiert worden – der zudem ein in der Westschweiz sehr bekannter Humorist war, präsent insbesondere auf dem öffentlich-rechtlichen Radiosender RTS. Jetzt kehrt die Ausstellung in einer aktualisierten Version zurück.

Das Museum liegt in der Nähe des Genfersee-Ufers und beherbergt die Überreste eines reichen römischen Herrenhauses. In seiner Dauerausstellung zeigt es archäologisches Mobiliar, das an den antiken Stätten in Lausanne (Lousonna) entdeckt wurde.

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