Ist Chur wirklich die älteste Schweizer Stadt?
Die Schweizer Stadt Chur behauptet, dass sie mindestens 11'000 Jahre alt sei. Wenn das stimmt, wäre sie älter als Jericho – eine der ältesten dauernd bewohnten Siedlungen der Welt. Aber stimmt die Behauptung von Chur überhaupt?
Ein Tipp für Erstbesucher: Lassen Sie Ihren Stadtplan von Chur vorerst in ihrer Tasche verschwinden und verirren Sie sich ein wenig. Wenn Sie durch die verwinkelten Kopfsteinpflaster-Gassen wandern – Autos sind nicht erlaubt –, stossen Sie bald auf hervorragend erhaltene, alte Gebäude mit detailreichen, bemalten Fassaden, versteckten Innenhöfen, verzierten Türen und Uhren sowie auf die unverwüstliche St. Martinskirche aus dem 15. Jahrhundert.
Faszinierende historische Ausstellungsobjekte gibt es auch im Rätischen MuseumExterner Link sowie viele kleine Cafés, Boutiquen und Hotels. Die ältesten Gebäude stammen aus der Zeit nach dem grossen Brand von 1464, der den grössten Teil der Stadt zerstörte.
Aber Chur ist laut dem lokalen InfozentrumExterner Link viel älter. 1998 stiessen Bauarbeiter, die einen Parkplatz errichten wollten, auf archäologische Artefakte, die auf etwa 11’000 v. Chr. zurückgehen. Chur wird deshalb oft als «die älteste Stadt der Schweiz» bezeichnet und wäre damit rund 2000 Jahre älter als Jericho.
Bescheidenes Neuenburg
Aber in der Stadt Neuenburg – fast am gegenüberliegenden, westlichen Ende des Landes – haben Archäologen Artefakte gefunden, die in der Zeit von 13’000 v. Chr. stammen, also rund 2000 Jahre älter sind als jene von Chur.
Dennoch behauptet das bescheidene Neuenburg offiziell, dass es erst im Jahre 1011 entstanden sei, als die Stadt «Novum Castellum», lateinisch für «Neuenburg», erstmals schriftlich erwähnt wurde.
Verdient Chur oder Neuenburg – oder eine andere Schweizer Stadt – das Prädikat der ältesten Stadt? Und kann es Jericho den Rang ablaufen?
Es stimmt, dass «Chur mit Sicherheit einige der ältesten archäologischen Funde der Schweiz hervorgebracht hat», sagt Professor Philippe Della Casa vom Institut für Archäologie der Universität Zürich. Aber die Funde «gehören zu temporären Siedlungen, nicht zu permanenten».
Um als «Stadt» bezeichnet zu werden, müssen bestimmte Kriterien erfüllt werden», sagt Della Casa, darunter «zentrale Verwaltung, komplexe Planung und Architektur, strukturierte soziale Organisation und spezialisiertes Handwerk». Nach diesen Kriterien ist «Chur sicherlich nicht die ‹älteste Stadt› der Schweiz, denn Städte als solche entstanden nicht vor der keltischen Eisenzeit, der Mitte des ersten Jahrtausends v. Chr.».
Auch die frühesten Artefakte an der Neuenburger Küste stammen aus «Nomadenlagern von Jägern und Sammlern», sagt Marc-Antoine Kaeser, Professor für Archäologie an der Universität Neuenburg und Direktor von LateniumExterner Link. Latenium ist das grösste archäologische Museum der Schweiz.
Es steht am Neuenburgersee in der Nähe der ältesten Fundorte. Im Archäologiepark vor den Toren des Museums stehen Repliken neolithischer Pfahlbauerhäuser aus dem Jahr 3810 v. Chr. Die Ausstellungsobjekte im Inneren des Lateniums sind 500 Jahrhunderte alt, beginnend mit den Neandertalern.
Kaeser sagt, dass sich die ältesten permanenten neolithischen Siedlungen, die bisher in der Schweiz identifiziert wurden, im Rhonetal und in der Stadt Bellinzona auf der Südseite der Alpen befinden. Aber «eine wirkliche Dauerbesiedlung kann erst seit der Römerzeit nachgewiesen werden».
Professor Della Casa schlägt vor, Zürich, Bern, Genf oder Basel als älteste Städte der Schweiz zu betrachten. «All diese Orte hatten in der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends v. Chr. keltische Siedlungen befestigt», sagt er.
Thomas Reitmaier, Direktor des Archäologischen Dienstes des Kantons Graubünden, dessen Büro sich in Chur befindet, stimmt dieser Zeitangabe zu. «Das ist ziemlich heikel», sagt er, aber «im Allgemeinen wird die Entstehung der frühesten proto-urbanen und urbanen Zentren nördlich der Alpen auf das erste Jahrtausend v. Chr. datiert». Deshalb sei es schwierig, die älteste Schweizer Stadt zu bestimmen.
Was ist mit Chur?
«Es gibt erste Überreste aus dem Spätpaläolithikum (ca. 12.000 v. Chr.) Spuren einiger Lager und einige erste Siedlungen von der Jungsteinzeit (4.500 v. Chr.) bis zur römischen Besetzung und der Gründung eines eher kleinen Vicus [antike römische Siedlung]».
Reitmaier sagt aber: «Im Fall von Chur sollten wir frühestens ab dem Mittelalter von einer Stadt sprechen». Die Stadtmauern seien nicht vor dem 13. Jahrhundert errichtet worden.
Diese interessanten Fakten sollten Sie beim Spaziergang durch die unbestreitbar bezaubernden Kopfsteinpflaster-Gassen des alten Chur in Erwägung ziehen.
Vielleicht kommt die Schweizer Stadt gerade in die Blütezeit.
(Übertragung aus dem Englischen: Peter Siegenthaler)
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