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Wenn Tierknochen Geschichten erzählen

Ossements d animaux disparus
Für diejenigen, die sie zu beobachten weiss. Knochen sind wahre Fundgruben an Informationen. Philippe Wagneur / Muséum Genève

Den Begriff Archäozoologie kennen wohl nur wenige Menschen. Das Naturhistorische Museum Genf möchte dies ändern und widmet dieser Disziplin eine eigene Ausstellung.

Vor 40 Jahren gründete der Zoologe Louis Chaix im Naturhistorischen Museum Genf eine Abteilung für Archäozoologie. Dieses Jubiläum ist nun Anlass für eine Ausstellung, welche die Aktivitäten und Herausforderungen dieser weitgehend unbekannten Disziplin zeigt.

Denn im Bereich der Archäozoologie spielt die Genfer Institution international in der obersten Liga. Es verfügt sogar über eine Osteothek, eine Knochensammlung bestehend aus über 5000 Skeletten. Es ist die grösste der Schweiz und eine der zehn grössten Europas.

Collection d ossements
Die Osteothek des Genfer Museums ist die grösste der Schweiz und eine der zehn grössten in Europa. Philippe Wagneur / Muséum Genève

«Da ist einiges zusammengekommen im Laufe der Zeit», sagt die Archäologin Mila Musy, welche die Schau mitorganisiert hat. Gründer Louis Chaix hatte sein Archäozoologie-Zentrum innerhalb der Abteilung für Wirbeltierpaläontologie aufgebaut, die bereits eine umfangreiche Knochensammlung besass.

«Später wurde sie durch Schenkungen und Ankäufe erweitert, um den Bedürfnissen der Forschung gerecht zu werden», so Musy.

Eine eigenständige Disziplin

Die Archäozoologie entstand im 19. Jahrhundert und entwickelte sich im 20. Jahrhundert weiter. Die Disziplin beschäftigt sich mit der Untersuchung von Knochen, vornehmlich tierischen, in einem archäologischen Kontext. Diese Verbindung mit der Archäologie unterscheidet sie von verwandten Forschungszweigen wie der Zoologie oder der Paläontologie.

«Die Paläontologie beschäftigt sich mit Tieren und ihrer Entwicklung, eventuell auch mit der Rekonstruktion von Umwelten», erklärt Jean-Christophe Castel, Archäozoologe und Forschungsbeauftragter am Museum.

«Die Archäozoologie hingegen beschäftigt sich mit der Interaktion zwischen der Tierwelt und den menschlichen Aktivitäten. Dadurch lässt sich zum Beispiel die Diversifizierung der Nahrungsmittelproduktion oder der Technik besser verstehen.»

affiche d une exposition avec un ossement
Philippe Wagneur / Muséum Genève

Mit anderen Worten: Archäozoolog:innen sind Archäolog:innen, die sich auf die Untersuchung von Knochen spezialisiert haben. «Die Archäologie ist ein extrem spezialisiertes Feld, in dem jede und jeder ein bestimmtes Gebiet bevorzugt», fährt Jean-Christophe Castel fort.

«Ich habe Kolleginnen und Kollegen, die sich mit nur mit Feuerstein oder Töpferei beschäftigen. Ich bin halt der Spezialist für Knochen.»

Eine wichtige Informationsquelle

Je älter die untersuchten Epochen sind, desto wichtiger wird die Archäozoologie als Informationsquelle. Dies gilt insbesondere für die Vorgeschichte, in der es keine Schrift gab und nur wenige Gegenstände oder Bauwerke entstanden sind.

Die Untersuchung von Knochen eröffnet den Forschenden somit die Möglichkeiten, mehr über das Leben von damals zu erfahren. «Ohne diese Beiträge wüssten wir praktisch nichts über die Lebensweise der Neandertaler- oder Cro-Magnon-Menschen oder über die Domestizierung von Hunden, Katzen oder Dromedare», heisst es in der Mitteilung des Museums.

Archäologin Patricia Chiquet berichtet von einer Ausgrabung in der Gegend von Grandson südlich des Neuenburgersees. Dort förderte eine Notgrabung im Rahmen eines Bauprojekts zahlreiche Knochen aus der Steinzeit ans Tageslicht. «Es war eine sehr gut erhaltene Seeufersiedlung aus der Zeit um 2700 vor Christus, die in einer Tiefe von 1,5 bis 2 Metern eine Abfolge von fünfzehn aufeinander folgenden Dörfern aufwies», erzählt sie.

«Ich hatte Zugang zu einem unglaublich gut erhaltenen Material. Durch die Untersuchung der Knochen konnte ich feststellen, dass die Bevölkerung noch sehr oft wilde Tiere jagte, während die Viehzucht bereits stark verbreitet war.»

Homme devant une table pleine d ossements.
Die Archäozoologie kann manchmal auch einem Puzzle ähneln. Philippe Wagneur / Muséum de Genève

Chiquet untersucht auch die Ursprünge der Viehzucht in den Alpen zu Beginn des Neolithikums. Sie erklärt: «Anhand der Knochen lässt sich etwa feststellen, welche Tierarten gezüchtet wurden und zu welchem Zweck die Zucht betrieben wurde. Mit Kolleg:innen führen wir Isotopenanalysen der Zähne durch, wodurch wir Unterschiede im Wachstum der Zähne feststellen konnten.»

Dadurch konnten die Forschenden Wechselwirkungen zwischen Ernährung und geografischen Bewegungen nachweisen.

Es wäre jedoch falsch zu glauben, dass die Untersuchung von Knochen nur Informationen über sehr alte Zeiträume liefert. Sie kann auch bei Ereignissen aus der jüngsten Vergangenheit helfen. «Es gibt archäologische Ausgrabungen zu Ereignissen aus dem 20 Jahrhundert, zum Beispiel auf Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs», sagt Jean-Christophe Castel.

«Tiere wurden dort stark eingesetzt, insbesondere Pferde. Man hat festgestellt, dass die Pferde zu Beginn des Krieges Qualitätstiere aus den Nationalgestüten waren, dann aber durch Arbeitspferde ersetzt wurden.» Für solche Erkenntnisse seien Archäozoologen gefragt. «Denn die meisten Archäologinnen und Archäologen werden bestenfalls den Unterschied zwischen einem Pferde- und einem Kuhknochen feststellen können, mehr nicht», sagt Castel.

Viel mehr als nur ein Knochen

Es scheint unglaublich, dass ein einfaches Stück Knochen dazu beitragen kann, Geschichte zu schreiben. Doch geübte Augen unterscheiden Dinge, die für Laien unsichtbar bleiben.

In der Cafeteria des Museums zieht Jean-Christophe Castel einen Knochen aus seiner Tasche und beginnt ihn zu beschreiben. «Ausgehend von einem Knochen wie diesem, einem nicht sehr schönen Stück, kann man Vieles über die Umwelt und die menschlichen Aktivitäten erzählen», beginnt er.

«Ich erkenne sofort den Oberarmknochen eines ziemlich grossen Pflanzenfressers, wahrscheinlich eines Ochsen oder eines grossen Hirsches. Wenn ich die Art nicht eindeutig feststellen kann, ziehe ich unsere Knochensammlung zu Rate.»

Der Knochen ist braun – das sei typisch für solche, die in einem feuchten Kontext gefunden werden. «Im mittleren Teil des Knochens, dem Schaft, sieht man Bruchkanten, die glatt sind, mit leicht gewundenen Kanten. Das bedeutet, dass der Knochen absichtlich gebrochen wurde, um das Knochenmark zu gewinnen», analysiert er.

«Ich erkenne noch kleine parallele Einschnitte, die mit einem Messer aus Feuerstein oder Knochen gemacht wurden. Diese Spuren befinden sich in der Nähe der Trennung zwischen dem Oberarmknochen und der Speiche.» Das deute auf eine so genannte Exartikulationsoperation hin, bei der die Knochen «zuerst getrennt werden, bevor man sie bricht, um an das Knochenmark zu gelangen.»

Vue sur un ossement
Diese kleinen Einkerbungen auf der Knochenoberfläche zeugen von der Verwendung eines Messers. swissinfo.ch

Dieser Knochen sei im Laufe der Zeit beschädigt worden. «Am distalen Ende ist er gesprungen und ein wenig abgeschliffen, was Fragen aufwirft, da der Rest des Knochens gut erhalten ist. Das könnte daran liegen, dass er nicht vergraben wurde und der beschädigte Teil etwas länger an der Luft lag. Das gibt uns Aufschluss über die Sedimentationsgeschwindigkeit an der Fundstelle und die Bedingungen, unter denen diese Knochen entsorgt wurden.»

Ganz aktuelle Themen

Die Archäozoologie hilft auch, ganz aktuelle und zukunftsbezogene Fragen zu beleuchten. «Die Archäozoologie gräbt zwar tief in der Geschichte, fördert dabei aber sehr technische und konkrete Informationen zutage, die uns heute helfen. So liefern sie Hinweise auf zukünftige Entwicklungen, etwa für den Klimawandel oder unsere Ernährung», sagt Mila Musy.

«Wir versuchen zu zeigen, wie sich Menschen- und Tierpopulationen im Laufe der Zeit entwickelt haben», ergänzt Jean-Christophe Castel. «So sehen wir, wie Mensch und Umwelt Lösungen gefunden haben, um auf Herausforderungen der Umwelt zu reagieren.»

Bei der letzten globalen Erwärmung wandelte sich die Region von Genf innerhalb von 2000 bis 3000 Jahren von einer Eiszeit-Landschaft in ein Gebiet mit gemässigten Klima. Dies führte zu einer völligen Umwälzung der Pflanzen- und Tierarten sowie der Menschen.

Diese mussten sich entscheiden, ob sie nun den grossen Tierherden folgen oder ihre Ernährungsweise komplett umstellen sollten. Die Archäozoologie gibt also auch Aufschluss darüber, wie Nahrungsressourcen bewirtschaftet wurden. Eine sehr aktuelle Frage.

Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer

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