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Architektin Annette Gigon oder wie man trotz Klimaschutz schön baut

Annette Gigon
Gigon/Guyer/Inge Zimmermann

Wie finden Ästhetik und Klimaschutz zusammen? Wie sieht das Haus der Zukunft aus? Im Interview erzählt die Schweizer Architektin Annette Gigon, welche Herausforderungen CO2-sensibles Bauen mit sich bringt.

Das hochgelobte Kirchner-MuseumExterner Link in Davos war 1992 das erste grössere Projekt von Annette Gigon und ihrem Büropartner Mike Guyer. Die beiden kannten sich seit dem Studium an der ETH Zürich und gründeten 1989 das gemeinsame Architekturbüro Gigon/Guyer.

Gigon Kirchner
Aussenansicht des Kirchner Museums in Davos, 1992. Wettbewerb 1989, 1. Preis Christian Beutler/Keystone

Seither haben sie neben bemerkenswerten Museumsgebäuden wie dem Kunstmuseum AppenzellExterner Link, der Erweiterung des Josef Albers Museums in BottropExterner Link und des Verkehrshaus der SchweizExterner Link in Luzern auch mit Wohn- und Bürobauten wie dem Prime TowerExterner Link in Zürich von sich reden gemacht.

Annette Gigon widmet sich in den letzten Jahren als Professorin an der ETH Zürich auch verstärkt Fragen des klimafreundlichen und energiesparenden Bauens. Gemeinsam mit Assistierenden erarbeitete sie darum möglichst einfach verständliche Grundlagen zur Klimabilanz von Baumaterialien und dem Betrieb von Gebäuden.

In ihrer Büropraxis setzen Gigon/Guyer vermehrt auf Holz als nachhaltigen Baustoff, wie jüngst im gewonnenen Wettbewerb für ein Schulhaus in LuzernExterner Link. Und dennoch, sagt Gigon, hat auch Beton weiter seine Berechtigung.

Kunstmuseum Appenzell
Aussenansicht des Museums Liner in Appenzell. Seit der Eröffnung im Jahre 1998 ist das Museum Liner zu einer Ikone der neuen Museumsarchitektur geworden. Regina Kuehne/Keystone

SWI swissinfo.ch: International werden 37% der Treibhausgase vom Gebäudesektor verursacht. Beton allein ist immerhin für acht Prozent der weltweiten Treibhausgase verantwortlich.

Anette Gigon: Und Stahl für weitere acht Prozent. Die hohe Prozentzahl für den Gebäudesektor umfasst neben den Emissionen für die Erstellung auch jene der Nutzung, zum Beispiel für das Heizen, Warmwasser und Kunstlicht. Der Materialverbrauch ist enorm, Tendenz zunehmend. Weltweit ist derzeit eine ungeheure Bautätigkeit im Gange.

Liessen sich diese grauen Emissionen reduzieren, zum Beispiel durch die Verwendung anderer, klimafreundlicherer Baustoffe?

Ja – ich möchte aber noch vorausschicken, dass mich alle Stoffe faszinieren und dass ich versuche, unparteiisch zu sein. Es kommt in der Architektur darauf an, wie man sie verwendet. Es nützt auch nichts, Stahlbeton zu verteufeln. Er wird weltweit so häufig genutzt, weil er einfach anwendbar, belastbar und leistungsfähig ist hinsichtlich Erdbebensicherheit oder für den Brand- und Schallschutz.

Und auch Backsteine müssen sehr energieintensiv gebrannt werden. Sie sind also keine echte Alternative. Holz als nachwachsender Baustoff ist theoretisch klimaneutral, aber praktisch muss man es schlagen, transportieren, trocknen und meist auch verleimen.

Holz und auch andere biogene Materialien haben immerhin den Vorteil, Kohlenstoff der Umwelt entzogen zu halten, zumindest solange die Gebäude bestehen. Aber wir müssen uns bewusst sein, dass die Wälder nicht nachhaltig so viel Holz produzieren, dass man das globale Baugeschehen komplett darauf umstellen könnte.

Prime Tower
Keystone

Das klingt, als sei emissionsfreies Bauen noch in weiter Ferne. Wie sieht es denn mit CO2-Emissionen aus, die durch das Heizen und den Betrieb von Gebäuden entstehen?

Nach der Erdölkrise und den Warnungen des Club of Rome wuchs das Energiebewusstsein. Danach hat man die Häuser zu dämmen begonnen. In den 1980er-Jahren, als wir studiert haben, waren fünf Zentimeter Dämmung der Standard, heute ist es das vier- bis sechsfache. Die Gebäude der letzten drei Jahrzehnte brauchen also zumeist nur die Umrüstung auf Wärmepumpen.

Mehr Sorgen machen die älteren Bauten, die noch nicht oder nur minimal gedämmt sind und meistens noch fossil beheizt werden. Es ist etwa die Hälfte des Baubestands in der Schweiz. Viele Altbauten sind erst mit der Einführung der Zentralheizung zu Energieverschwendern geworden. Zuvor wurden nur einzelne Zimmer und diese dazu nur zeitweilig mit Öfen beheizt, nach dem Einbau einer Zentralheizung dann aber gleich das ganze Haus und rund um die Uhr.

Der grösste Hebel ist also die Dämmung?

Wir haben das in einer Studie untersucht: Wenn wir ein Haus mit einer 20 bis 30 Zentimeter dicken Dämmschicht versehen, eine Wärmepumpe einbauen, Photovoltaik-Elemente setzen und auch alle grauen CO2-Emissionen des gesamten Umbaus samt Aufstockung einrechnen, sinken die CO2-Emissionen von Betrieb plus Amortisation der grauen Emissionen auf einen Viertel des heutigen jährlichen Werts mit einer Gasheizung.

Für die gesamte CO2-Bilanz des Gebäudesektors ist es also sinnvoll, alte Gebäude energetisch zu ertüchtigen, sofern die erhöhten heutigen Anforderungen, Baugesetze und Normen dies zulassen.

Wie berechnet man die gesamten Emissionen eines Gebäudes – jene, die im Baustoff und Prozess stecken, und jene, die im Betrieb entstehen?

Hier spricht man von Lebenszyklusbetrachtung. Dafür gibt es Tools, die bereits in der frühen Planung Abschätzungen erlauben. Sie halten derzeit Einzug in die Architekturbüros. Genauere Programme sind rar und bleiben meist Spezialist:innen vorbehalten.

Wie viel Energie die von uns geplanten Gebäude dann im Betrieb tatsächlich verbrauchen, erfahren wir Architekt:innen leider selten. Auch wenn oder gerade weil das Benutzerverhalten hier hineinspielt, wären diese Daten aufschlussreich.

An der ETH unterrichten Sie die nächste Generation von Architekt:innen. Spüren Sie da eine wachsende Sensibilität für das Thema Klimaschutz?

Ja! Wir haben uns der unbequemen «Selbstaufklärung» verschrieben und hatten gleichwohl einen grossen Zulauf in den Semestern. Wir haben die vielen Fakten und Zahlen zusammengetragen, den Gebäudesektor betrachtet, aber auch einen Seitenblick auf unseren Konsum und unsere Mobilität geworfen.

Wie viel Treibhausgase verursachen die Erstellung von einem Quadratmeter Stahlbetonwand oder das Beheizen dieses ungedämmten Wandstücks mit Erdgas, während nur eines Jahres? Gleich viel, um die 70-80 kg CO2! Ein Kilogramm brasilianisches Rindfleisch zu konsumieren übrigens auch. Und die Emissionen einer Bitcoin-Transaktion glichen denen von etwa fünf Quadratmetern Betonwand. Kaum jemand kennt die Grössenordnungen.

Mit Schlagwörtern und Halbwissen kommt man dem komplexen Problem nicht bei. Es geht jetzt darum, dass viele Menschen aus allen Sparten sich in Sachen CO2 «alphabetisieren», das Wissen in ihren Gebieten anwenden und weitergeben, denn es geht um die gesamte Palette der Emissionen.

Wir alle sind verwöhnt von günstiger, verfügbarer, fossiler Energie, aber können nicht mehr so weiter machen wie bisher. Unser aller Aufgabe ist es, nach Lösungen zu suchen, mit Bedacht zu handeln.

Erweiterung Josef Albers Museum Quadrat Bottrop
Erweiterung Josef Albers Museum Quadrat Bottrop, 2022. Wettbewerb 2016, 1. Preis Stefan Josef Mueller

Sie haben mit dem 2011 eröffneten Prime TowerExterner Link in Zürich das damals höchste Gebäude der Schweiz gebaut. Er hat eine Glasfassade. Die gilt ja gemeinhin nicht als sehr energieeffizient.

Ja, Verglasungen schneiden in der Regel schlechter ab als geschlossene Wände mit Wärmedämmung, auch wenn der Prime Tower sehr gute dreifache Sonnenschutz-Isoliergläser als Fassade hat. Dass er trotzdem gute Energiewerte erzielt, liegt an seiner Kompaktheit, das heisst am günstigen Verhältnis von Fassadenflächen zu Geschossflächen von eins zu drei, aber auch an öffenbaren Fenstern, am integrierten Sonnenschutz und an der Wärmepumpenheizung.

Würde man heute noch so bauen?

Heute sind die Vorschriften nochmals strenger. Der teilverglaste Andreas Turm in Zürich-Oerlikon ist ein Beispiel. Bekämen wir wieder die Aufgabe, ein gänzlich verglastes Hochhaus zu bauen, würden wir das wohl ähnlich angehen wie das Würth Haus RorschachExterner Link oder das Haus Lagerstrasse in ZürichExterner Link. Deren Fassade besteht aus zwei Glasschichten, einer isolierenden und einer Schatten spendenden. Sie sind getrennt durch einen hinterlüfteten Hohlraum, worin der Sonnenschutz von der Luft umspült wird.

Würth Haus Rorschach
Würth Haus Rorschach, Rorschach, 2013. Wettbewerb 2009, 1. Preis Thomas Staub/Würth

In der Tat hatten wir im Wettbewerbsentwurf für den Prime Tower zunächst eine zweischichtige Glasfassade mit dazwischen liegendem, äusserem Sonnenschutz vorgeschlagen. Aus Gründen der Logistik und des Unterhalts hat die Bauherrschaft sich später für die realisierte, hochwertige und kompakte Konstruktion entschieden.  

Wie sieht das Haus der Zukunft aus?

In Zukunft wird an neue Gebäude der Anspruch gestellt werden, nicht nur sehr sparsam mit Energie umzugehen, sondern durch Photovoltaik-Module auch Energie zu produzieren. Bislang bleibt es allerding in der Schweiz eine Herausforderung, Projekte zu realisieren, die die in ästhetischer Hinsicht unbeliebten Elemente auch an der Fassade einsetzen. Damit Wettbewerbe zu gewinnen, war fast ein Ding der Unmöglichkeit.

Im gerade fertig gestellten Verkehrshaus LuzernExterner Link haben wir zum ersten Mal Photovoltaikelemente quasi als Schmuckstücke an der Fassade angebracht – der Ehrgeiz war, zusammen mit dem Künstler Urs Beat Roth, nur durch die Proportionen und den Rhythmus ihrer Anordnung ein Art Ornament zu entwickeln.

Visualisierung Verkehrshaus
Verkehrshaus der Schweiz – Mehrzweckgebäude «House of Energy», Luzern, 2023. (Visualisierung) Gigon/Guyer/Indievisual

Wie viele gestalterische Kompromisse muss man inmitten der wachsenden Vorschriften als Architekt:in machen?

Die zunehmende Zahl von Normen und Vorgaben schränken die gestalterische Freiheit ein – klar! Wir versuchen uns den neuen Anforderungen zu stellen, sie kreativ umzusetzen, ihnen auch Schönheit zu entlocken.

Das Kirchner-Museum zeigt hinter den geätzten Fassadengläsern verschwommen die dämmenden Holzwollplatten. Der Einblick in die Konstruktion ist Teil des architektonischen Konzepts. Das Dach haben wir mit Abfallglas statt mit Kies beschwert. Es glitzert heute noch wunderbar in der Sonne.

Wir haben immer aufs Neue versucht, uns als Bauende mit der Welt, der Um-Welt, den Stoffen auseinanderzusetzen, ihnen alles zu entlocken, um zeitgemässe, spannende Lösungen zu schaffen. Der durchsichtige Stoff CO2, der Widergänger all unseres Tuns, beschäftigt uns gerade am stärksten. 

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