Auf den Spuren der Steinzeit in Libyen
Libyen wird sofort mit Gaddafi und der Geisel-Affäre in Verbindung gebracht. Ein ganz anderes Libyen hat auf seinen Expeditionen der Schweizer Kunstschaffende Jörg Mollet kennengelernt: Ein Land voller Kunstschätze mit einer weltoffenen Bevölkerung.
Die Felszeichnungen und -gravuren in der libyschen Messak-Wüste haben Jörg Mollet richtiggehend in den Bann gezogen.
Um die bis zu 10’000 Jahre alten Elefanten, Nashörner, Giraffen, Maskenmenschen und Reiterinnen auf Urbüffeln, die zum Unesco-Weltkulturerbe gehören, zu fotografieren und damit einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, scheute er keine Hindernisse.
Mollet trat den Marathon durch libysche Ämter an und ging in der endlosen Wüste durch das dichte Netz von Polizeiposten, harrte Sandstürmen und Temperaturen von über 40 Grad und kletterte, um zu den Felszeichnungen zu gelangen, auch mal über Stacheldrahtzäune, als er realisierte, dass ihm in Libyen dafür wohl ausser Gaddafi niemand die Erlaubnis geben könnte.
Bogen von Steinzeit zu Moderne
Drei Expeditionen hat Mollet zwischen 2005 und 2008 für das «Swiss-Libyan Art Project» in die libysche Wüste gemacht. Mit dem Projekt, das er zusammen mit dem Schweizer Schriftsteller Aurel Schmidt initiierte, soll von den steinzeitlichen Felszeichnungen ein Bogen zu den Werken von libyschen Gegenwartskünstlern und den Graffitis in Tripolis gespannt sowie der schweizerisch-libysche Kulturaustausch gefördert werden.
Wenn Mollet die jahrtausendealten Felszeichnungen Graffitis an Häuserwänden in Tripolis gegenüberstellt, so zeigt sich: Zeichen wie etwa das Herz sind damals wie heute aktuelll.
Alles andere als primitiv wirken auch die fotografierten Felsgravuren, deren Züge Mollet durch Umzeichnungen und Freistellungen hervorhebt. Die Kunstwerke aus der Steinzeit erinnern dadurch an Pablo Picasso und Keith Haring.
Stolz auf Kultur
Das «Swiss-Libyan Art Project» wird von der libyschen und der Schweizer Unesco-Kommission unterstützt. Während sich die ehemalige Kolonialmacht Italien in Libyen für die Sicherung der römischen Schätze engagiert und nach Gesetz für archäologische Fragen zuständig ist, setzt sich also die Schweiz für die Sicherung der Steinzeitkultur ein.
Und dafür gibt es laut Mollet allen Grund: «Es gibt Theorien, die besagen, dass Libyen die Quelle der Menschheit ist, die Basis der Hochkultur.» Nach einer Trockenzeit habe hier vor 12’000 Jahren eine Kultur Fuss gefasst, die nach einer erneuten Trockenperiode vor etwa 7000 Jahren wohl ins Niltal abgewandert sei.
Die Libyer seien denn auch ungeheuer stolz auf ihr Land, sagt Mollet. Zahlreiche Libyer arbeiteten oder studierten im Ausland – und kehrten danach wieder nach Libyen zurück.
«Grosse Weltoffenheit»
In Libyen treffe man denn auch immer wieder auf Leute, die Deutsch, Französisch, Italienisch oder Englisch sprechen würden. Um einem Schweizer Reisenden zu erklären, dass Hähnchenspiesse auf dem Menu stehen, dafür fände sich in einem Restaurant praktisch immer ein Gast, der dies in perfektem Deutsch tun könne.
In Libyen werde man schon auch mal gefragt, weshalb er als Schweizer eigentlich nicht besser Französisch spreche.
Beeindruckt von der grossen Weltoffenheit zeigt Mollet eine Postkarte mit Weihnachtswünschen des libyschen Künstlers Awad Elkisch. Darauf abgebildet ist Alexander der Grosse, geschrieben ist die Karte auf Deutsch. «Würden wir einem Araber auf Arabisch schreiben und ihm zum Ramadan gratulieren?», fragt Mollet rhetorisch.
Es sei geradezu beschämend, wie wenig wir von Libyen kennten, während sie sehr gut über unsere Kultur und Geschichte Bescheid wüssten. Ihm scheine, die Schweiz sei dagegen in ihrer Eurozentriertheit und Swissness eingeschlossen. «Wir leben immer noch im Réduit. Wir sind nicht auf die Globalisierung vorbereitet, uns bereiten schon unsere Beziehungen mit dem Westen Probleme.»
«Abgekapselte Realitäten»
Durch die Diktatur habe sich in Libyen eine Art «Facettengesellschaft» entwickelt. Orte wie etwa die Universität seien für die Libyer zu «abgekapselten Realitäten» geworden, in denen die Menschen in einem relativ geschützten Rahmen ihren Interessen nachgehen könnten.
In der libyschen Gesellschaft werde man immer wieder mit Widersprüchen konfrontiert. Sei es beim General, der einem mit einer modernen afrikanischen Kunstsammlung überrasche oder bei den modernen, selbstbewussten Frauen mit Kopftuch.
Ein ungeschriebenes Gesetz besage, dass es Tabu sei, über Religion, Sex und Politik zu sprechen, sagt Mollet. Doch genau darüber würden die Libyer mit einem in den «Nischen des Systems» reden. «Wenn man mit jemandem alleine im Taxi oder in der Wüste ist, dann fangen die Menschen an, über alles Mögliche zu plaudern.»
Der Alltag spiele sich in Libyen häufig in einer Grauzone ab, in der Diskretion oberstes Gebot sei. «Gerät man einmal in die Willkür des Regierungsapparats, kann einem praktisch niemand mehr helfen.»
Die Beziehungen der Schweiz zu Libyen bleiben seit Ausbruch der diplomatischen Krise im Juli 2008 und der Verhaftung der zwei Schweizer Geiseln angespannt.
Deswegen musste auch der Dokumentarfilm des Schweizer Regisseurs Bruno Moll auf Eis gelegt werden. Dieser war als weiterer Bestandteil des Projekts geplant. Das Drehbuch liegt vor.
Corinne Buchser, swissinfo.ch
Eine der Kunstschaffenden, die am Swiss-Libyan Art Project mitmachen, ist Khadija Elferjani.
Die 33-Jährige vermischt Elemente der libyschen Kultur mit afrikanischen Motiven und und den Anliegen der Frauen.
Sie nimmt in ihren Werken auch Motive der Felsenkunst als Zeichensprache auf.
Ein weiterer Künstler ist Ali Ezouik. Ihm bot das Kulturaustauschprojekt Gelegenheit, mit seinen Werken auch ein westliches Publikum zu erreichen.
Ezouik konnte seine Aquarelle vor rund zwei Jahren in einer Genfer Galerie und an der Zürcher Kunstausstellung Kunst 08 präsentieren.
Er selbst war damals allerdings nicht in Zürich anwesend – die diplomatische Krise zwischen der Schweiz und Libyen hatte zu dieser Zeit bereits ihren Anfang genommen.
Die Kunstszene in Libyen sei im Allgemeinen sehr traditionalistisch, volkstümlich oder verakademisiert, sagt Mollet. Für den kleinen Kreis zeitgenössischer Künstler sei es daher sehr schwierig, einen Absatzmarkt für ihre Kunst zu finden. Die Künstler arbeiteten in äusserst bescheidenen Verhältnissen.
Hauptstadt: Tripolis
Fläche: 1’759’540 km2
Einwohnerzahl: 5,85 Mio.
Volksgruppen: 97% Araber und Berber
Religionen: 97% Sunniten
Landessprache: Arabisch
Bruttoinlandprodukt (BIP) 2007: 48.95 Mrd. US-Dollar
Schweizerkolonie 2008: 42 Personen
Schweizer Exporte 2008: 244.30 Mio. Franken
Veränderung zum Vorjahr: -5,5%
Schweizer Importe 2008: 3’202.45 Mio. Franken
Veränderung zum Vorjahr:178,8%
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