Auf den Spuren Leonardos in Locarno
Hat Leonardo da Vinci auch in Locarno gewirkt? Ein italienischer Historiker ist nach zweijähriger Recherche fest davon überzeugt.
Nach Ansicht von Marino Viganò trägt das Bollwerk des Schlosses von Locarno eindeutig die Handschrift Leonardos. Das Werk stammt aus dem Jahr 1507.
Wenn der Historiker Marino Viganò die Geschichte erzählt, wie er auf die Spuren von Leonardo das Vinci in Locarno stiess, erscheint es wie ein Märchen. Dabei handelt es sich um eine minutiöse und arbeitsintensive wissenschaftliche Recherche.
Die zweijährige Forschung ist in einem umfangreichen Bericht dokumentiert. Das Werk wird Ende Januar dem Amt für Kulturgüter des Kantons Tessin überreicht und Anfang Februar in Locarno öffentlich vorgestellt.
Alles begann im Sommer 2002
Die Präsentation ist der letzte Schritt auf einem langen Rechercheweg. Begonnen hat alles im Jahr 2002, fast aus Zufall. Der Historiker bekam das Bollwerk erstmals zu Gesicht. «Wir reden immer von den Aussenmauern des Visconti-Schlosses von Locarno, bei dem es sich – rein technisch gesehen – um ein Bollwerk handelt», sagt Marino Viganò im Gespräch mit swissinfo.
Dieser Teil des Schlosses ist in Privatbesitz. Damals luden ihn die Besitzer ein, sich ein Bild der Überreste zu machen. «Es erschien mir von Anfang an ein aussergewöhnliches Bauwerk. Nicht nur, weil es in einem anderen Stil als das Schloss gebaut ist, sondern auch zu einem späteren Zeitpunkt», hält Viganò fest.
Aber was machte ein Bollwerk mit Charakteristika aus dem 16. Jahrhundert in einem Schloss, das nach historischen Quellen schon am Ende des 15. Jahrhunderts fertig gestellt war? Wer hatte den Bau in Auftrag gegeben? Von diesen Fragen ging die Recherche aus.
Bauauftrag von Charles II d’Amboise
Die Beschaffenheit des Bollwerks liess für Viganò nur zwei mögliche Bauperioden zu. Entweder entstand es während der Besetzung des Locarnese durch die Franzosen zwischen 1499 und 1513 oder während der folgenden Zeit zwischen 1513 und 1532, als Locarno unter eidgenössischer Verwaltung stand.
Nachforschungen in Archiven von Kantonen, zu deren Untertanengebiet Locarno damals gehörte, ergaben, dass die erste Hypothese die richtige war. «Aus den Dokumenten der Eidgenossen lässt sich ersehen, dass das Werk unter französischer Besatzung gebaut wurde, also zwischen 1499 und 1513», sagt Viganò.
Den Bauauftrag hatte der «Grand maître» von Mailand erteilt. Diesen Titel trug der Statthalter des französischen Königs in Mailand, Charles II d’Amboise. Dieser verwaltete Mailand von 1502 bis zu seinem Todesjahr 1511. Somit war die mögliche Bauperiode weiter eingegrenzt.
Aus anderen Quellen konnte Viganò ersehen, dass Charles d’Amboise überall im Herzogtum Mailand in einem einzigen Jahr Schlösser stärker befestigen liess und alle nach dem gleichen Muster. Es war das Jahr 1507. «Locarno gehört somit in einen Prozess der allgemeinen Aufrüstung der Befestigungsanlagen», schlussfolgert der Historiker.
Leonardo als Baumeister
Nachdem diese Chronologie erstellt war, analysierte Viganò die Konfiguration und Bauweise des Bollwerks. Es hat die Form eines unregelmässigen Fünfecks. Über den vier erhaltenen Kanonenschiess-Stellungen öffnen sich Kamine zum Abzug des Pulverrauchs. Eine ausgeklügelte Architektur – im Vergleich zu den anderen Bollwerken im Raum Milano aus dem Jahr 1507.
Diese Technologie war zur damaligen Zeit nur in einigen toskanischen Städten anzutreffen. Wie kam also diese Anlage in die Lombardei? Viganò kam zum Schluss, dass es sich um einen toskanischen Militärbaumeister handeln musste. Und er berief sich dabei auch auf bereits 1894 gemachte Äusserungen des Kunsthistorikers Johann Rudolf Rahn.
«1507 gab es nur einen einzigen toskanischen Baumeister und Militärarchitekten mit dem nötigen Wissen: Leonardo. Er hatte schon für den Herzog Ludovico Maria Sforza Vorschläge gemacht, das Castello Sforzesco in Mailand besser zu schützen. Weitere Entwürfe legte Leonardo 1494 den Franzosen, den neuen Machthabern in Mailand, vor. Die Pläne wurden 1499 verwirklicht.»
Keine Beweise, aber erdrückende Indizien
Viganò hat seine These wie ein grosses Puzzle aus vielen kleinen Teilen zusammengesetzt. Die Puzzle-Stücke passen bestens zusammen. «Ich habe keine Dokumente gefunden, die die Autorenschaft Leonardos für dieses Bollwerk zweifelsfrei belegen, aber es lässt sich praktisch keine andere Schlussfolgerung aus meinen Erkenntnissen ziehen», sagt der 43-jährige Militärhistoriker.
Die These Viganòs ist von zwei Experten sehr positiv beurteilt worden. Einerseits von Domenico Taddei, Präsident des Wissenschaftlichen Rates des Istituto Italiano dei Castelli, sowie von Pietro Cesare Marani, einem Spezialisten für die militärarchitektonischen Zeichnungen Leonardos.
swissinfo, Francoise Gehring, Locarno
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
In den Tagebucheinträgen Leonardos, die aus der Zeit zwischen 1487 und 1490 datieren, gibt es einige Entwürfe für fünfeckige Bollwerke.
Die Pläne wurden von den Franzosen bei den Befestigungsanlagen für das Schloss Visconteo in Mailand 1499 umgesetzt, sieben Jahre vor dem Bau des Bollwerks in Locarno.
Die Idee zum Bau der Befestigungsanlage Locarno reicht auf das Jahr 1500 zurück.
Der 43-jährige Historiker Marino Viganò ist Dozent für Geschichte der Militärarchitektur an der Università Cattolica in Mailand.
Zwei Jahre lang hat er zu Ursprung und Urheberschaft des Bollwerks vom Schloss Visconteo in Locarno geforscht. Er ist überzeugt, dass Leonardo da Vinci die Befestigungsanlagen entworfen hat.
Seine Aufsehen erregende These wird er am 5. Februar in Locarno offiziell vorstellen.
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