Auf Spuren der Grosseltern im «Erinnerungsbüro»
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Wir können uns jederzeit die neuesten News ansehen, wir kennen die Fussballresultate und den Börsenkurs. Doch was wissen wir über unsere Grosseltern? Ein Langzeitprojekt, das zurzeit als Audio-Ausstellung zugänglich ist, stellt diese Frage ins Zentrum.
Wann und wo ist der Grossvater oder die Grossmutter geboren? Wie haben sich die Grosseltern kennengelernt? Wie erging es Ihnen in unserem Alter?
Versucht man, sich an die Lebensgeschichte der Grosseltern zu erinnern, so wird man sich bewusst: Man weiss so vieles nicht, was man meint, eigentlich wissen zu müssen.
Erinnerungslücken
Sich über die eigene Familiengeschichte Gedanken zu machen, sich der Erinnerungslücken gewahr zu werden, dazu regt das «Erinnerungsbüro» an.
Der Dramaturg Mats Staub zeichnet im Rahmen seines Langzeitprojekts «Meine Grosseltern / Erinnerungsbüro», das er im Frühling 2008 startete, Gespräche mit Enkelinnen und Enkeln auf, die sich die Besucher auf einem iPod anhören können.
Im Museum für Kommunikation in Bern und im Stadtmuseum und Kunsthaus Aarau ist erstmals eine Auswahl aus den über 270 aufgezeichneten Gesprächen als Audio-Ausstellung zugänglich.
Die Besucher sitzen auf Kissen, sind in die Erzählungen aus dem iPod vertieft. Sie lassen den Blick durch den Raum schweifen oder bleiben an den schwarzweissen Fotos haften, welche die Grosseltern zeigen, als sie noch jung waren.
Bewusstsein für Familiengedächtnis schaffen
Wie in alten Zeiten lauscht man den Geschichten. Geschichten, in denen die Erzählenden immer wieder Denkpausen einlegen müssen, um den verbleibenden Erinnerungsfetzen nachzuspüren. Und in Gedanken kehrt man zurück zu den Erinnerungen an die eigenen Grosseltern.
«Ich möchte ein Bewusstsein für das Familiengedächtnis schaffen und die Enkel dazu anregen, Eltern und Grosseltern über die Vergangenheit auszufragen», sagt Mats Staub gegenüber swissinfo.ch. Für ihn ist klar: «In unserer schnelllebigen Welt ist das Wissen um die eigenen Wurzeln umso wichtiger.»
Vielen Leuten würde die heute verloren gegangene Tradierung von Familiengeschichten fehlen, wie die Resonanz beim Publikum zeige.
«Meine Grossmutter war Töffrennfaherin»
Anstoss für das «Erinnerungsbüro» waren für Mats Staub die Nachforschungen über die eigenen Grosseltern. Seine Grosseltern, die in der Schweiz nur wenige Kilometer auseinander lebten, mussten in die Fremde ziehen, um sich zu finden: Der Bauernsohn vom Belpberg und die Professorentochter aus der Stadt Bern lernten sich in Tansania kennen.
Für Staub ist heute klar: «Es gibt keine langweiligen Lebensgeschichten; jede ist einzigartig.»
Da ist etwa jene der Grossmutter von Mirjam: Ein Foto zeigt das «Grosi» als 21-Jährige: In hohen Stiefeln, Hosen und Pullover sitzt sie selbstbewusst auf ihrem Töff, der Ariel.
Das «Grosi» sei Rennfahrerin gewesen und in den Dreissigerjahren das «Rütihof-Rennen» im Nachbardorf gefahren, «ein sehr steiler Hoger», wie Mirjam sagt.
Zu einer Zeit, als kaum Frauen am Steuer sassen, gab es bei den Grosseltern keine Diskussion darüber, wer den Ariel bei Ausflügen lenkte: «Mein Grossvater durfte nicht fahren, weil er es nicht so gut konnte», erzählt die Enkelin.
Den Salat nahm er immer mit Zucker, erinnert sich Mirjam an den Grossvater, der Architekt war. Und er habe immer Schokolade versteckt für die Kinder, so schlecht, dass sie diese auch sicher finden würden.
Im Gegensatz zu Ferdinand sei die Grossmutter» kein herzlicher Mensch» gewesen. Sie erzählt, wie sie einmal mit ihr im Auto sass, als sie fluchte. «Wahrscheinlich meinte sie das Mäuerchen, aber sicher nicht sich selber, denn sie war nie der ‹Schoofseckel›, alle anderen dagegen schon.» Sie sei grob und etwas harsch gewesen, aber sie habe dahinter das andere Grosi gespürt, so Mirjam.
War der Pionier ein Tyrann?
Ein anderer Enkel erzählt von den Lebensbedingungen im Walliser Bergdorf «Erschmatt». Sein Grossvater habe Kälber vom Markt im Tal auf dem Rücken ins Dorf hinaufgetragen. Und sein Vater habe als kleiner Junge in Leukerbad Alpenrosen verkauft. «Verhältnisse wie heute in Südamerika», so der Enkel.
Der Grossvater sei jedoch ein «kleiner Pionier» gewesen, habe als erster im Dorf einen Pflug und eine Waschmaschine angeschafft. Erst als Erwachsener erfuhr der Enkel, dass sein verehrter Grossvater ein Tyrann war. Was ist Legende, was Realität?
Ein Volk von Migranten
Die Wurzeln vieler Enkel reichen ins Ausland. «Ein Grossteil der Schweizer haben Migrationshintergrund – das ist alles andere als ein neues Phänomen «, sagt Mats Staub.
So führt etwa die Geschichte von Magdalenas Grossmutter nach Polen. Sie ist dort in einem Kinderheim aufgewachsen, wie die Bündnerin aus Erzählungen weiss. «Irena, das goldene Händchen», habe man die gelernte Hutmacherin genannt, weil sie so gut nähen konnte.
Magdalena selber nannte sie Babica, was auf Polnisch Oma bedeutet.
Das Foto in der Ausstellung zeigt eine Frau in einem weissem schulterfreien Kleid mit einer Zigarette in der Hand, die Augenbrauen mit einem schwarzen Stift nachgezogenen – was sie als Kind immer sehr fasziniert habe, wie Magdalena sagt.
Magdalena hat bei ihrer Grossmutter gewohnt, bis sie sechs Jahre alt war. Die beiden haben sogar im gleichen Bett geschlafen. Sie könne sich sehr gut an ihren Geruch erinnern und auch daran, wie die Grossmutter in der Nacht, als sie starb, nach einem Hustenanfall ins Nachbarzimmer gegangen sei.
Babica, die bereits mit 18 Jahren geheiratet hat, war Jüdin. Als der Krieg ausbrach, ist sie zum katholischen Glauben konvertiert. Trotzdem kam sie in ein Arbeitslager.
«Kriegsversehrte» Biographien
Führt die Geschichte der Grosseltern aus der Schweiz heraus, stellt der Zweite Weltkrieg praktisch in allen Biographien eine Zäsur dar. Oft schwiegen die Grosseltern über diese Zeit.
Eine Enkelin berichtet über die Kriegserzählung ihres Grossvaters: Als Kind fragte sie ihren Grossvater beim Essen ganz unbedarft, wie es im Krieg war. Der Mann, der bis zu diesem Zeitpunkt nie über den Krieg gesprochen hatte, begann zu erzählen, und seine Tränen tropften in die Suppe.
Man kenne zwar viele Fakten über den Zweiten Weltkrieg, doch wenn man in persönlichen Erzählungen höre, wie stark der Krieg die Familien auch in den Jahrzehnten danach geprägt habe, sei das sehr erschütternd, so Mats Staub.
Was bleibt von uns?
Besucht man das «Erinnerungsbüro» oder die Audio-Ausstellung von Mats Staub, wird man ganz direkt mit der eigenen Vergänglichkeit konfrontiert.
Was bleibt einmal von mir, wird sich manch ein Besucher fragen? «Hoffentlich was Nettes, aber sicher nichts Weltbewegendes», bemerkt ein Enkel lakonisch.
Mats Staub startete mit seinem Langzeitprojekt, dem «Erinnerungsbüro», im Frühling 2008.
Es weilte bisher an verschiedenen Stationen in der Schweiz sowie in Wien, Hannover und Hamburg.
Bis am 10. Oktober ist es im Museum für Kommunikation in Bern und vom 21. Oktober bis 7. November im Stadtmuseum und Kunsthaus Aarau ist erstmals eine Auswahl der über 270 aufgezeichneten Gespräche als Audio-Ausstellung zugänglich.
In der Edition Patrick Frey ist soeben das Buch «Meine Grosseltern / My Grandparents» erschienen.
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