Bührles belastete Kunstsammlung braucht viel mehr Provenienzforschung
Die Sammlung Bührle ist in einem Ausmass belastet, das "in der Schweiz wohl einmalig" ist, sagt Raphael Gross. Der Präsident des Deutschen Historischen Museums in Berlin leitete die Begutachtung der Sammlung. Das Fazit fällt vernichtend aus: die bisherige Provenienzforschung sei "unzureichend".
Als das Kunsthaus Zürich 2021 seinen 206 Millionen Franken teuren Erweiterungsbau eröffnete, um Meisterwerke von Künstlern wie Vincent van Gogh, Paul Cezanne und Claude Monet als Leihgaben der Stiftung Sammlung E. G. Bührle zu zeigen, kam es zum Eklat.
Auslöser dafür war der Sammler selbst: Emil Georg Bührle, der die Bilder zusammengetragen hatte und 1956 verstorben war, war durch den Verkauf von Flugabwehrkanonen an Deutschland während des Zweiten Weltkriegs zum reichsten Mann der Schweiz geworden.
Er soll dabei von der Sklavenarbeit in den Konzentrationslagern der Nazis profitiert und von Adolf Hitlers Regime geraubte Kunstwerke von Juden gekauft haben, sagen seine Kritiker:innen.
Zahlreiche Provenienzforschende und Histroriker:innen haben Zweifel an der Herkunft einiger der im Kunsthaus ausgestellten Kunstwerke geäussert und der von Bührle gegründeten Stiftung vorgeworfen, die Herkunft zu beschönigen.
Einige meinten zudem, das Museum hätte die Leihgabe, um die es sich bei den Bildern handelt, angesichts der Herkunft von Bührles Vermögen nie annehmen dürfen.
Als Reaktion auf die öffentliche Debatte beauftragten Kanton und Stadt Zürich sowie der Stiftungsrat des Kunsthauses Raphael Gross, den Präsidenten des Deutschen Historischen Museums in Berlin, mit der Erstellung eines Berichts, der die Provenienzforschung der Bührle-Stiftung auswertet.
Seit Ende Juni liegt der Report Externer Linkvor, und er fällt vernichtend aus: So hält er fest, dass die Recherchen der Stiftung unzureichend sind und «oft so oberflächlich, dass entscheidende Indikatoren übersehen werden». Weitere Provenienzforschung sei unabdingbar.
Unterlassungen
Die Provenienzforschung, also die Rekonstruktion der Besitzverhältnisse eines Kunstwerks, ist von entscheidender Bedeutung, um festzustellen, ob ein Gemälde einem:r jüdischen Sammler:in geraubt oder infolge der nationalsozialistischen Verfolgung verkauft wurde und daher nach internationalen Richtlinien restituiert werden muss.
Von den 205 Gemälden, die bis 2034 von der Bührle-Stiftung an das Kunsthaus ausgeliehen sind, befanden sich dem Bericht zufolge 133 zu irgendeinem Zeitpunkt vor 1945 im Besitz von Jüd:innen. Für viele dieser Werke waren in den Recherchen der Stiftung aber keine jüdische Vorbesitzer:innen aufgeführt.
«Diese Sammlung ist historisch besonders belastet, und zwar in einem Ausmass, das in der Schweiz wohl einmalig ist», sagt Gross im Gespräch mit SWI swissinfo.ch.
«Es gibt einen historisch sehr klaren Zusammenhang zwischen der Verfolgung jüdischer Sammler durch die Nazis und der Sammlung Bührle.»
«Wir wissen aus anderen historischen Forschungen, dass Bührle indirekt von der Sklavenarbeit in deutschen Konzentrationslagern profitierte, die Waffen in Lizenz produzierten, und wir wissen, dass er nach 1945 Schweizerinnen unter fast sklavenähnlichen Lagerbedingungen für sich arbeiten liess», so Gross. «Wir haben also ein ethisches Problem mit der Herkunft des Geldes.»
«Hinzu kommt, dass er das auf diese Weise verdiente Geld zum Aufbau seiner Sammlung verwendete. Er begann 1936 mit dem Sammeln, als die Verfolgung der Juden in Deutschland in vollem Gange war und sich der Markt durch jüdische Sammler, die ihre Kunst unter dem Druck der Verfolgung verkauften, verändert hatte.»
In seinem Subventionsvertrag Externer Linkmit der Stadt und dem Kanton Zürich hat sich der Stiftungsrat des Kunsthauses verpflichtet, alle Gemälde aus der Ausstellung zu entfernen, von denen sich herausstellt, dass sie von Jüd:innen geraubt oder aufgrund von Verfolgung verkauft wurden.
Moralisch nicht zu verantworten
In seinem Bericht schlägt Gross vor, dass das Kuratorium eine unabhängige Kommission einsetzt, die auf der Grundlage der vom Kunsthaus durchgeführten Provenienzforschung einzelne Werke bewertet und entscheidet, ob sie weiterhin im Museum hängen sollten. Eine solche Kommission würde die Museumsleitung entlasten, so der Bericht.
Der Bericht stellt auch die Verwendung von Bührles Namen zur Beschreibung der Sammlung in Frage, da dies «seinen Namen und damit seine gesamte Sammlung würdigt.
Vor dem Hintergrund der Ergebnisse des Berichts stellt sich die Frage, ob eine öffentliche Institution dies mit ihrer moralischen und ethischen Haltung vereinbaren kann».
Stadt und Kanton Zürich sowie der Stiftungsrat des Kunsthauses gaben in einer Stellungnahme bekannt, dass «ein beträchtlicher Teil der Werke in der Sammlung Bührle vor dem Zweiten Weltkrieg in jüdischem Besitz war».
Als Auftraggebende des Gross-Berichts sähen sie es als ihre Pflicht an, so schnell wie möglich geeignete Schritte festzulegen, sagten sie.
An erster Stelle stehe die weitere Provenienzforschung. Diese werde die Grundlage für eine Bewertung der verfolgungsbedingt verlorenen Kunstwerke und die Suche nach fairen und gerechten Lösungen bilden.
Schadenbegrenzung
Die drei Parteien wiesen darauf hin, dass die Entscheidung über die Rückgabe von Gemälden an die Erben jüdischer Sammler jedoch bei der Bührle-Stiftung als Eigentümerin der Sammlung liege.
Die Stiftung habe sich bereit erklärt, nach der Sommerpause Gespräche über das weitere Vorgehen aufzunehmen. Als Reaktion auf den Bericht von Gross sagte der Stiftungsrat lediglich, er werde den Bericht prüfen und zu gegebener Zeit dazu Stellung nehmen.
Zwei Wochen bevor Gross seinen Bericht veröffentlichte, kündigte die Bührle-Stiftung an, dass sie sich mit den Erben der früheren jüdischen Besitzenden von fünf Gemälden von Monet, van Gogh, Gauguin, Gustave Courbet und Henri de Toulouse-Lautrec einigen werde.
Die Stiftung erklärte, ihre Entscheidung beruhe nicht auf neuen Forschungsergebnissen, sondern auf neuen internationalen Leitlinien für den Umgang mit NS-verfolgungsbedingt verlorener Kunst.
Die neuen «Best Practices for the Washington Principles on Nazi-Confiscated ArtExterner Link«, die im März von 25 Ländern, darunter auch der Schweiz, verabschiedet wurden, sollen die Washingtoner Grundsätze von 1998 präzisieren und verstärken.
In Bezug auf ein sechstes Gemälde, La Sultane von Edouard Manet, erklärte die Stiftung, dass sie sich um eine «symbolische Einigung» mit den Erben des jüdischen Kunstsammlers Max Silberberg bemühen werde, obwohl die Umstände des Verlusts nach Ansicht der Stiftung nicht unter die Kriterien dieser «Best Practices» fielen.
Der Fuchs im Hühnerstall
Nach Ansicht von Gross ging diese Ankündigung nicht auf offene Fragen zur Provenienzforschung der Stiftung ein, sondern erschien eher als «eine Krisenreaktion», um zu zeigen, dass die Stiftung bereit sei, etwas zu tun.
Sein Team untersuchte vier weitere Gemälde in der Sammlung genau, um die Provenienzforschung der Stiftung zu bewerten. Bei Vincent van Goghs «Kopf einer Bäuerin» (1885) zum Beispiel fanden sie heraus, dass es in der Nazizeit einem jüdischen Sammler gehört hatt.
Die Bührle-Stiftung hatte bei ihren eigenen veröffentlichten Recherchen keinen Hinweis auf problematische Verbindungen gefunden.
Für Gross ist eine der Lehren, die er daraus zieht, die Bedeutung einer unabhängigen Provenienzforschung. In den neuen «Best Practices» heisst es denn auch, dass «die Herkunftsforschung, insbesondere im Hinblick auf potenzielle Ansprüche, idealerweise von einer unabhängigen Forschungseinrichtung durchgeführt werden sollte, um mögliche Interessenkonflikte zu vermeiden».
Die meisten Herkunftsforschungen würden jedoch von der Eigentümerschaft durchgeführt. «Das ist also die Regel, nicht die Ausnahme», so Gross.
«Das ist ein grosses Problem», sagt er. «Es versteht sich von selbst, dass die Forschung immer unabhängig sein sollte, um mögliche Interessenkonflikte zu vermeiden.
Aber im Fall von Kunst handelt es sich um bedeutende Vermögenswerte, die von den Personen erforscht werden, die sie besitzen. Das ist eindeutig nicht unabhängig.»
Übertragung aus dem Englischen: Marc Leutenegger
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch