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Barbara Frey: “Es geht jetzt darum, nicht aufzugeben”

Barbara Frey im Porträt
"Wenn ich hier stehe und sage, morgen kommt niemand mehr, dann kann ich es gleich ganz lassen." Daniel Sadrowski/Ruhrtriennale

Zehn Jahre lang war Barbara Frey Intendantin des Schauspielhauses Zürich. Nun leitet sie 2021 bis 2023 die Ruhrtriennale, das grösste Kunstfestival Nordrhein-Westfalens. Im Interview spricht Frey über ihre Zeit nach Zürich, den Garten ihrer Grossmutter im Aargau und sinkende Zuschauerzahlen.

swissinfo.ch: Erst kürzlich war der Schweizer Nationalfeiertag. Haben Sie gefeiert?

Barbara Frey: (lacht) Nein, überhaupt nicht. Ich war auf der Rückreise nach Bochum. Ich habe es völlig vergessen.

Sie haben Zürich und der Schweiz nach dem Ende Ihrer Intendanz am Schauspielhaus den Rücken gekehrt.

Für mich war es nach zehn Jahren Schweiz wichtig, das Land wieder zu verlassen. Ich wollte einen Wechsel und bin nach Wien gegangen. Für mich war das ein toller Aufbruch. Und dann kam die Pandemie, die alle Abläufe auf den Kopf gestellt hat.

Man spürt das unter anderem daran, dass man sich die Wochentage seit zweieinhalb Jahren nicht mehr merken kann. Es ist eine alptraumhafte Endlosschleife.

Eine Szene aus den Drei Schwestern
Szenenbild zu “Drei Schwestern” von Anton Tschechow unter der Regie von Barbara Frey während einer Probe im Zürcher Schauspielhaus am Dienstag, 9. September 2014. Keystone / Walter Bieri

 Wo verorten Sie sich selbst? 

In Wien und derzeit auch im Ruhrgebiet. Ich bin immer viel unterwegs gewesen. Zuhause ist man auf einer Probe. Wenn eine Probe gut läuft, gibt es einem das Gefühl einer eigentümlichen Aufgehobenheit. Wo die Bühne dann steht, spielt gar keine Rolle.

Barbara Frey erhält den renommierten Grand Prix Darstellende Künste, besser bekannt als Hans-Reinhart-Ring. Das ist die höchste Theater-Auszeichnung der Schweiz. Seit 2014 ist er dem mit 100 000 Franken dotierten Schweizer Grand Prix des Bundesamts für Kultur angegliedert. Den jeweils eigens angefertigten Goldring mit dem Bild einer Theatermaske konnten bisher u. a. Ursina Lardi, Christoph Marthaler oder Gardi Hutter entgegennehmen.

Derzeit steht sie für Sie im Ruhrgebiet. Das einstige Kohlerevier unterscheidet sich sehr vom wohlhabenden Zürich.

Was hier so spannend ist, können Sie bereits aus den Fenstern meines Bochumer Büros sehen. Das Ruhrgebiet hat so eine seltsame Multiperspektivität. Von hier aus schaue ich auf Fördertürme und Industriehallen, auf grüne Auen und auf Wohnsilos. In der Schweiz hat man es immer mit einer Art freundlichem Panorama zu tun, dem man nicht ganz traut.

Barbara Frey

Barbara Frey hatte von 2009 bis 2019 als erste Frau in der Geschichte des Hauses die künstlerische Leitung des Schauspielhauses Zürich inne. Im Mai 2016 erhielt sie den Schweizer Theaterpreis für ihre Verdienste um das Theaterschaffen in der Schweiz. Seit 2006 arbeitet sie ausserdem regelmässig am Burgtheater Wien und im November 2020 trat sie die Intendanz der RuhrtriennaleExterner Link für die Jahre 2021, 2022 und 2023 an.

Auch dieses Jahr zeigen mehr als 500 internationale Künstler:innen in den ehemaligen Zechen, Kokereien und Stahlwerken des Ruhrgebiets Projekte in Tanz, Schauspiel, Performance, Konzert, Installation und Literatur.

Beeinflussen Orte Ihre Arbeit?

Ich glaube, dass man als künstlerischer Mensch eine Art innere Urlandschaft hat, auf die man immer wieder zurückkommt und die man mitnimmt. Über dieser Ur-Landschaft liegen dann extrem wechselnde Landschaften. Für mich persönlich ist dieser Ur-Raum der Garten meiner Grossmutter im Städtchen Aarau.

Dort gab es viele Obstbäume, ein winziges Schwimmbecken und vor allem die Präsenz dieser Grossmutter, die für uns Kinder etwas von einer Zauberin hatte, eine Art zweite Mutter ohne Erziehungsaufgaben konnte sie das in einem hervorholen, was mit Kreativität und Erfindungsreichtum zu tun hat.

Barbara Frey im Porträt
“Die Gefahr, niemanden zu erreichen oder zu berühren, ist ein Grundrisiko in allen Künsten.” Daniel Sadrowski/Ruhrtriennale

Es gibt an vielen deutschsprachigen Bühnen die Befürchtung und auch erste Hinweise, dass die Zuschauer:innen auch nach der Pandemie weiter ausbleiben. Die Frankfurter Oper hat statt 12’000 nur noch 5000 Abonnent:innen. Das Wiener Burgtheater ist nur zu 71% ausgelastet, auch das Schauspielhaus Zürich vermeldet sinkende Besucher:innenzahlen.

Viele Kulturinstitutionen und Theaterhäuser kämpfen mit einer grossen Skepsis auf Seiten des Publikums. Es ist verunsichert, dafür habe ich Verständnis, weil wir alle verunsichert sind. Während der Pandemie gab es die bestürzende Einschätzung, die Künste seien nicht systemrelevant.

Ich glaube, das hat einen Schock ausgelöst, von dem wir uns als Gesellschaft noch nicht erholt haben. Wir müssen uns wirklich fragen, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen. Ob wir nur noch Konsum und Arbeit wollen und nichts, was uns geistig fordert, unsere Fantasie, unser soziales Verhalten.

Probenszene
Carolin Conrad, links, und Markus Scheumann, rechts, in einer Probe zu “Malaga” im Zürcher Schauspielhaus am Mittwoch, 5. Mai 2010 Keystone / Walter Bieri

Werden die Theater wieder voller werden?

Ich würde da keine Prognose wagen. Und ich bin auch keine Freundin von Dystopien. Wenn ich hier sitze und sage, morgen kommt niemand mehr, dann kann ich es gleich ganz lassen. Es geht darum, jetzt da zu sein, den Austausch zu suchen, zu kämpfen und nicht aufzugeben.

Es gab so viele Umschwünge in den Künsten in den vergangenen Jahrzehnten. Als die Videokunst aufkam, gab es wahnsinnige Ängste, dass das Gemälde verschwinden würde. Das Gegenteil passierte.

Als ich eine junge Schlagzeugerin war, kam der Drumcomputer auf und man dachte, dass man uns nun nicht mehr braucht. Das Gegenteil ist der Fall. Wir müssen zuversichtlich bleiben, dass sich etwas zurückkämpft. Verstehen Sie das nicht als platte Durchhalteparolen.

Festivals wie in Salzburg und Bayreuth sind hingegen ausverkauft. Liegt die Zukunft im Event?

Ich würde davor warnen, da jetzt in eine interne Konkurrenz zu gehen nach dem Motto: Da gehen die Leute hin und da gehen sie nicht hin. Wir sollten jetzt wirklich sorgsam miteinander umgehen und versuchen, den Druck nicht noch zu erhöhen, sondern uns gemeinsam die Zeit zu nehmen, bis die Ängste wieder kleiner werden.

Während der Ruhrtriennale wird auch Ihre Inszenierung von Arthur Schnitzlers “Das weite Land” aufgeführt. Ihr letztes Stück in Zürich waren “Die Toten” nach einer Erzählung von James Joyce. Was reizt Sie daran, immer wieder auf klassisches literarisches Material zurückzugreifen und es zu nutzen?

Mich fasziniert, dass diese Werke offensichtlich von sich heraus die Kraft haben, sich zu erneuern. Dass wir nicht vor ihnen stehen und sagen „ich verstehe kein Wort“, sondern dass wir heutige Ängste, eine heutige Verzweiflung und heutiges Misstrauen in ihnen sehen.

Wenn diese Werke nicht diese Kraft hätten, autonom über ihre Entstehungszeit hinauszuweisen, dann würden sie nicht mehr auftauchen. Sie schaffen es, das Kostüm zu wechseln, das ist eine Grundgeste der Kunst.

 Und doch braucht es dann die richtige Inszenierung, um ein zeitgenössisches Publikum zu erreichen.

Das stimmt, aber das gilt auch für zeitgenössische Stücke. Die Gefahr, niemanden zu erreichen oder zu berühren, ist ein Grundrisiko in allen Künsten.

Ekstatische Probe in den 1990er-Jahren
Szene aus einer Probe des Theaterstueckes “Suisside” inszeniert von Barbara Frey mit den Schauspielern v.l.n.r. Brigitt Walser, Lilian Fritz und Juerg Hebeisen, im Theater Gessnerallee, Zürich, April 1995 Keystone / Niklaus Stauss

Sie werden in den Medien häufig als zurückhaltend und dialogstark beschrieben, typisch Schweizerin, heisst es dann zudem. Das Ruhrgebiet ist hingegen rau, direkt, laut. 

Mich interessiert das sehr. Es gibt diese sehr spezifische Ruhrgebietstonalität, eine Grundaufgeschlossenheit und auch eine Verbundenheit, weil man gemeinsam ja auch durch schwere Zeiten gegangen ist. Das ist ganz anders als in Berlin und München.

Und im Vergleich zu Zürich?

Die Schweizer:innen sind immer wahnsinnig reserviert, gefasst und diszipliniert. Oftmals ist es mir in der Schweiz so gegangen, dass ich gedacht habe: Ich bleibe da jetzt ein bisschen dran. Ich will da jetzt eine Form von Herzlichkeit reinbekommen in den Dialog.

Und irgendwann kommt sie dann auch. Dann freut man sich und merkt den Schweizerinnen und Schweizern an, dass sie auch froh sind, dass da eine gewisse Wärme entsteht. Aber sie hätten sie von sich aus nicht unbedingt angeboten.

Wie eng sind Ihre Verbindungen in die Schweiz noch?

Sehr eng, ich bin dort auch noch gemeldet, aber nach dem Tod meiner Eltern und einiger mir lieber Menschen hat sich die Beziehung schon verändert. Ich verbinde das Land nun auch mit Verlust und Trauer.

Sie haben auch einige Schweizer Künstler:innen auf das Festival eingeladen.

Lukas Bärfuss ist in allen drei Jahren meiner Intendanz dabei. Ich schätze ihn sehr. Ebenfalls Mats Staub, der sowohl als Künstler da ist als auch im dramaturgischen Team. Dieses Jahr ist auch Charlotte Hug als Künstlerin im Konzertbereich dabei. Insgesamt ist es mir wichtig festzuhalten: Die gesamte Ruhrtriennale ist nicht „mein“ Programm, sondern das eines neunköpfigen dialogfreudigen Programmteams.

Das Festival beginnt mit Musik und es schliesst mit Musik. Kommen sie noch dazu, Schlagzeug zu spielen?

Nein, aber es fehlt mir.

Besitzen Sie noch ein Schlagzeug?

Nur Teile. Ich denke viel drüber nach derzeit. Da kommt sicher noch etwas. (lacht)

Dieser Artikel wurde am 24. August 2022 erstmals publiziert und am 09. September aufdatiert mit der ergänzenden Meldung, dass Barbara Frey den Hans-Reinhart-Ring zugesprochen wurde.

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