«Die Welt verändert sich – wie auch die Grafik»
Matthieu Cortat gestaltete 2013 die Schriftart Basetica als Teil des Projekts "Open Switzerland". Dabei wird die Öffentlichkeit aufgerufen, Poster mit dieser Schrift zum Thema Schweizer Identität zu kreieren. Cortat erklärt, wie er diese Schriftart entwickelte.
Die Auswahl ist gross. Aus verschiedensten Hintergrundbildern, die etwas mit der Schweiz zu tun haben, können Interessierte auswählen und diese mit einer Beschriftung in BaseticaExterner Link versehen, die individuell in Grösse, Ausrichtung und Farbe verändert werden kann.
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Wie offen ist die Schweiz gegenüber der Welt?
Das Projekt «Open Switzerland»Externer Link wurde von «Base GVA»Externer Link lanciert, der Genfer Niederlassung eines internationalen Netzwerks von Kreativ-Studios. Cortat, 32, schreibt per E-Mail über die Herausforderungen, die sich ihm bei der «Aufweckung» der ikonenhaften Schriftart Helvetica stellten, wie auch über seine eigene Beziehung zur Schweiz.
swissinfo.ch: Laut der Projekt-Website von «Open Switzerland» will Basetica eine «Helvetica für 2013» sein – aufgeschlossen, sauber und modern. Basetica nimmt auf ironische Art Bezug auf die Schweizer Typografie der 1950er- und 60er-Jahre. Wie sind sie bei der Gestaltung dieser Schriftart vorgegangen?
Matthieu Cortat: Weil ich mir der grossen Bedeutung der Typografie im so genannten Schweizer Stil bewusst war, sprach ich mit «Base GVA» darüber, wie wir einen Font entwerfen könnten, welcher der Präzision, Diskretion und Anständigkeit der Schweizer Typografie gerecht wird.
In der grossen Ära des Schweizer Stils in den 1950er- und 60er-Jahren wurden zweckmässige und gut geschnittene Schriftarten entwickelt. Sie waren so gut, dass der legitime Stolz der Schweiz auf dieses goldene Zeitalter manchmal die Kreativität zu behindern scheint: «Wir haben das beste Firmenimage. Warum sollten wir es ändern?»
Matthieu Cortat
Cortat wurde 1982 in Delsberg, Kanton Jura, geboren. Er ist Grafiker und Schriftdesigner.
Er studierte an der Kunsthochschule Ecal in Lausanne und am Atelier national de Recherche typographique (ANRT) in Nancy, Frankreich.
Heute lebt er in Lyon und gestaltet neue Schriftarten, arbeitet aber auch für mehrere Verleger als Typograf und bietet regelmässig Touren durch das Druckmuseum Lyon an.
Im Rahmen dieser Institution baute Cortat den «Corpus Typographique Français» auf, der alle Schriftarten sammelt, die in Frankreich seit 1850 entworfen wurden.
Doch die Welt verändert sich. Und so auch die Grafik. Und die Typografie. Die Schriftart Basetica will, ohne die Qualitäten ihrer ruhmreichen Vorläufer zu verlieren, das wilde Kind der Familie sein. Einer Schweizer Familie, natürlich – Basetica ist jenes Kind, das ausserhalb des Zebrastreifens die Strasse überquert!
swissinfo.ch: Warum erinnert Basetica «ironisch» an die Schweizer Typografie der 1950er- und 60er-Jahre, wie es heisst?
M.C.: Ich denke, die Schweizer Schriftarten der 1950er- und 60er-Jahre sind, zuallererst, ernsthaft: Die Buchstaben sind modernistisch, aber ohne die dogmatischen Launen des Bauhauses, den Traditionalismus der britischen Typografie und die kalligrafischen Traditionen der Niederländer.
Sie wurden geschaffen von ehrlichen, achtbaren Männern mit einem geordneten und methodischen Geist, die mit Inbrunst daran arbeiteten, ein pragmatisches Design zu entwerfen, bei dem fast nichts dem Zufall oder der Leichtigkeit überlassen wurde. Diese Schriftarten sind so sauber wie eine Schweizer Landschaft, so anständig wie eine Sonntagspredigt… und genauso langweilig!
swissinfo.ch: Durch welche Merkmale unterscheidet sich Basetica von Helvetica?
M.C.: Es sind kleine Nuancen. Ich wollte Helvetica kneifen und aufwecken. Das a ist recht ähnlich, doch die gerundeten Kleinbuchstaben b, c, d, e, o, p und q sind sehr nah an der Form eines Kreises. Das j ist unten nicht abgerundet, wie auch das t nicht, ein einfaches Kreuz, das an seinem oberen Ende abgeschrägt ist.
Die Punzen [nicht bedruckte Innenflächen] von Basetica sind etwas grösser. Doch der Verlust an horizontalem Raum wird ausgeglichen durch eine sehr grosse Mittellänge [Höhe der Kleinbuchstaben, die keine Ober- oder Unterlänge haben]. Dies erlaubt es Basetica, in einer kleineren Schriftgrösse bei gleichbleibender Lesbarkeit gedruckt zu werden.
Die Frage der Mittellänge war von Beginn des Projekts weg ein wichtiger Punkt. Mit dem Einfluss der ITC Schriftarten [International Typeface Corporation] aus den 1970er- und 80er-Jahren und all den Fonts, die in den letzten 20 Jahren für Zeitungen entworfen wurden, sind wir uns kürzere Ober- und Unterlängen gewohnt. Ich denke, das ist ein generelles Charakteristikum der Typografie des beginnenden 21. Jahrhunderts [zum Vergleich die Schriftart FuturaExterner Link (Deutschland 1927) mit einer sehr kleinen Mittellänge].
Basetica ist rhythmischer als Helvetica: Einige Buchstaben sind ausgeprägt schmal, etwa f, r, s und t. Bei den Grossbuchstaben fragte ich mich, warum B, E oder L bei Helvetica so breit sind, weshalb ich meine ausgeglichener gestaltete. Warum nicht den Querstrich im grossen Q in einem Winkel von 45 Grad anbringen? Und ist es absolut nötig, den unteren Teil des y mit einer Rundung enden zu lassen?
swissinfo.ch: Welches waren ihre grössten Einflüsse bei dieser Arbeit – und generell?
M.C.: Ich habe mich vor allem aus dem Bauch heraus inspirieren lassen. Natürlich hatten bereits existierende Fonts ebenfalls einen grossen Einfluss: Helvetica und die Schweizer Tradition, wie auch die zeitgenössische Schweizer Typografie-Szene.
Besonders hervorheben möchte ich den guten Dialog mit «Base GVA». Sie erklärten, was sie sich wünschten; wir teilten Ideen, Entwürfe. Und so entstand die Schriftart Schritt für Schritt.
swissinfo.ch: Was ist die grösste Herausforderung beim Entwerfen einer neuen Schriftart?
M.C.: Ich würde Dutzende Seiten brauchen, um diese Frage zu beantworten! Was ist die grösste Herausforderung beim Entwerfen eines neuen Kleidungsstücks? Eines neuen Stuhls? Eines neuen Autos? Eines neuen Gebäudes?
Generell geht es um die Kreation. Wie können wir in einer globalisierten Welt, die uns täglich tausende Bilder von überallher bietet, etwas Originales schaffen? Wie verändern neue Technologien die Gestaltung von Buchstaben? Und wie werden diese wahrgenommen? Wie können wir uns in die Geschichte der Typografie einbringen, ohne zu meinen, wir seien revolutionär oder avantgardistisch, aber auch ohne dass wir die Vergangenheit wiederholen?
swissinfo.ch: Das Projekt «Open Switzerland» spiegelt das Image der Schweiz. Wie schätzen Sie selber das Land heute ein?
M.C.: Ich bin Schweizer, lebe aber seit zehn Jahren in Frankreich und betrachte die Schweiz von aussen. Einige Aspekte des Schweizer Alltags erscheinen mir heute überraschend, manchmal irrational. Ich bin oft verwirrt, wenn ich meinen französischen Freunden das Schweizer Politsystem und die 26 verschiedenen kantonalen Parlamente und Schulsysteme zu erklären versuche…
Die grafische Identität der Schweiz entstand in Jahrzehnten des Tourismus, der Uhrenexporte, der Feinmechanik (und der Steuerflucht!). Dieses Image war bereits in den 1960er-Jahren gleich.
Auch wenn ich nicht mehr in der Schweiz lebe, weiss ich, dass all diese Klischees zum Teil wahr sind, dass es aber auch ganz viel anderes in diesem Land gibt: Energie, Ideen und den Willen, etwas zu verändern. Basetica macht genau das – natürlich auf schweizerische Art und Weise, mit kleinen Schritten. Können Sie sich eine Revolution in der Schweiz vorstellen?
Fachchinesisch
Eine Schriftart (auch Schriftfamilie genannt) ist ein Set eines oder mehrerer Fonts (Zeichensätze), bestehend aus Glyphen (die grafische Darstellung eines Schriftzeichens) mit den gleichen Design-Merkmalen. In der digitalen Typografie ist ein Font eine digitale Datei, welche die Schriftart beinhaltet. Die Schriftart ist, was man von dieser Datei sieht.
Jeder Font einer Schriftart hat spezifische Charakteristiken wie Strichstärke, Stil, verschiedene Schriftbreiten in einem Buchstaben, Kursivschrift, Verzierungen (und früher, beim Schriftsatz, Schriftgrösse). Dem Neue Helvetica Complete Family PackExterner Link auf fonts.com beispielsweise gehören 51 Fonts an.
Ein Font kann mit Serifen sein (Römische Schrift genannt), oder ohne, also Sans Serif (auch Grotesk- oder Gotische Schrift genannt). Eine Serife ist eine Linie, die einen Buchstabenstrich am Ende quer zu seiner Grundrichtung abschliesst.
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Schweiz ist immer noch eine Quelle der Kreativität
(Übertragen aus dem Englischen: Christian Raaflaub)
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