Befreit sich der Schweizer Film von seinen Komplexen?
Die Solothurner Filmtage haben am Montag begonnen. Dabei ist auch Nicolas Bideau, der "Monsieur Cinéma" der Eidgenossenschaft.
Ein Gespräch mit dem landeshöchsten Film-Beamten am Rande dieses jährlichen Schweizer Rendez-vous der 7. Kunst, des Films.
swissinfo: Welchen Platz haben die Solothurner Filmtage in der Agenda des Leiters der Sektion Film im Bundesamt für Kultur (BAK)?
Nicolas Bideau: Einen sehr wichtigen. Für mich sind diese Tage ein Moment der Ruhe.
Da leiste ich mir – für einmal abgekoppelt von der Produktion -Diskussionen, hitzige Wortgefechte und Reflexionen darüber, was zu verbessern wäre. Solothurn dient mir wirklich als wichtige Plattform für den Intellekt.
swissinfo: Als Sie die Leitung der Sektion Film des Bundesamts übernahmen, waren die Filmtage 2006 geprägt vom Widerstand gegen ihre eher dem Markt zuneigende Denkweise. Seither scheinen sich die Gemüter nicht wirklich beruhigt zu haben.
N.B.: Die Filme sprechen aber eine deutliche Sprache. Mit dem Innenminister Pascal Couchepin und dem Leiter des Bundesamts für Kultur, Jean-Frédéric Jauslin, kündigten wir damals Neuerungen an.
Wir wollten eine Politik, die gleichzeitig Qualität und Popularität anzielt. 2006 hat gezeigt, dass dies möglich ist, in verschiedenen Film-Genres.
In der Schweiz produziert man Autorenfilme und kommerzielle Streifen. Beide Arten muss man unterstützen. Nur ist es im Leben oft so, dass eine Art die andere nicht mag.
swissinfo: 2006 war ja ein Glücksjahr für das helvetische Filmschaffen, mit einem historisch hohen Schweizer Marktanteil von 10%! Diese Produktionen wurden vor ihrer Zeit unterstützt. Kommt Ihr Ansatz jetzt langsam zum Tragen?
N.B.: Meine Chance besteht darin, dass ich meinen Ansatz formulieren konnte, bevor sich der Erfolg dieser Filme einstellte. Ich dachte ja eh daran, in diese Richtung zu gehen. Wir haben eigentlich diese Resultate fast etwas vorweg genommen.
Doch der Erfolg könnte noch besser ausfallen. 10% Marktanteil, das ist für die Schweiz zwar gewichtig. Vergleiche mit anderen Ländern zeigen die Relationen. Frankreich kommt auf 35% Anteil, Deutschland auf 15 bis 20%. Wir haben also noch zu tun.
swissinfo: Der Erfolg in der Schweiz ist ja auf einige wenige Filme zurückzuführen. Sind das die Boten eines Wechsels, oder verbergen diese partiellen Erfolge nur eine Filmbranche, die ihr Publikum immer noch suchen muss?
N.B.: In der Schweiz zählt man dieses Jahr eineinhalb Millionen Kino-Eintritte für Filme aus Schweizer Produktion, also für fünf oder sechs Produktionen. Das gab es noch nie vorher.
Früher gab es einen oder zwei erfolgreiche Schweizer Filme. Dieses Jahr gab es Schweizer Produktionen im kommerziellen, wie im Autorenbereich. Das zeigt einen fruchtbaren Grund auf, den muss man begiessen.
Man muss sowohl auf Regisseure, als auch auf Produzenten hören. Ich möchte die Produktion professionalisieren. Die Schweiz galt lange Zeit als Land der Regisseure mit Produzenten, die mit den Autoren befreundet waren.
Das ist nicht mehr der Fall, und das ist einer der wichtigen Gründe, dass die Filme ihr Publikum finden.
swissinfo: Mit den Solothurner Filmtagen ist auch der Schweizer Filmpreis verbunden. Die Verleihung des Preises war lange Zeit ziemlich klobig. Dieses Jahr ist «Abendgarderobe» gefordert, was grosse Wellen wirft. Kommt der Wechsel?
N.B.: Ich war immer über die Schwerfälligkeit dieses Anlasses erstaunt – über diesen Alt-68-iger Geist, der die Atmosphäre in Blei goss. Damals galt ja als Regel, auf jeden Fall keine Abendgarderobe anzuziehen.
Auch heute noch sind viele von dieser Haltung geprägt. Doch gibt es auch Leute, die Lust haben, sich elegant zu zeigen, die das Spiel des Show-Business spielen wollen. Wir sind hier ja schliesslich im Show Business.
Im Show-Business steckt das Wort Show. Ob man will oder nicht, das gehört zu den Regeln des Kinos. Schliesslich geht es auch um Respekt vor dem Publikum. Kino ist weltweit mit viel Glitzer verquickt.
swissinfo: Werden tiefe Ausschnitte beim Decolleté und dunkle Smokings das Fernsehen endlich dazu bewegen, diesen Anlass abzudecken?
N.B.: Ich war mir bewusst, das Fernsehen für dieses Jahr nicht überzeugen zu können, den gesamten Anlass zu übertragen. Sie sind nicht davon überzeugt. So dachte ich, wir werden uns darauf beschränken, im Vorfeld für etwas Lärm zu sorgen.
Ich hatte Glück, es läuft wie geschmiert, der Skandal ging ab. Damit wird das Fernsehen sicher dabei sein, zumindest im Nachrichten-Bereich. Das wäre toll, das sorgt für Aufmerksamkeit. Davon konnte ich zu Beginn nur träumen.
swissinfo: In den 15 Monaten, während denen sie die Film-Sektion des BAK nun leiten, was haben Sie da etwas über den Schweizer Film gelernt, was Sie bisher nicht wussten?
N.B.: Sehr überrascht war ich von der Art und der Leistung der neuen Generation von Autoren. Nicht, dass ich damit die alte über Bord werfen möchte. Beweis dafür ist der Film «Vitus» von Fredi Murer, der ein ewig Junger ist.
Schon aus familiären Gründen kannte ich die alte Generation besser als die Jungen. Es erstaunt mich, wieviel Leute heute keine Furcht vor dem Markt haben, weder links noch rechts stehen und nicht in den Klischees verankert sind.
Auch die Jungen denken politisch, aber anders als die Alten. Daraus ergeben sich schliesslich sehr schöne Filme. Immer noch mit Engagement, aber durchsetzt mit etwas mehr Lockerheit. Ein Engagement, bei dem die Botschaft nicht forciert wird, sondern wo man die Entscheidung dem Publikum überlässt.Und das gefällt mir besonders.
swissinfo-Interview, Bernard Léchot, Solothurn
(Übertragung aus dem Französischen: Alexander Künzle)
Die Solothurner Filmtage sind eine Werkschau des Schweizer Films.
Sie dauern noch bis am 28. Januar.
2006 war ein sehr erfolgreiches Jahr für den Schweizer Film.
Er erreichte bei den Kino-Eintritten einen Marktanteil von 10% – gegenüber 6% im Vorjahr.
Die Verordnung des Departements des Inneren über die Filmförderung gibt dem Bundesamt für Kultur den gesetzlichen Rahmen für seine Filmpolitik.
In revidierter Form trat diese Verordnung im Juli 2006 in Kraft.
Die Förderungsmassnahmen nehmen besonders Rücksicht auf die Bedürfnisse nach Qualität und Popularität des Schweizer Films.
Sie bleiben für die Periode 2006 – 2010 in Kraft.
Nicolas Bideau, Jahrgang 1969, ist der Sohn des Schauspielers Jean-Luc Bideau.
Er hat in Lausanne und Paris politische Wissenschaften und in Peking chinesische Sprache studiert.
1999 begann er seine Diplomatenkarriere im Schweizer Aussenministerium (EDA).
Von 2004 bis 2005 leitete er das Kompetenzzentrum für Kulturaussenpolitik im EDA.
2005 wurde er zum Leiter der Sektion Film im Bundesamt für Kultur (BAK) ernannt.
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