Schauspielhaus Zürich: Eine Bühne, so frei wie die Schweiz
In den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg stieg das Zürcher Schauspielhaus zur letzten freien deutschsprachigen Bühne auf. Ab 1933 spielten hier hauptsächlich Emigranten, die in Deutschland nicht mehr spielen durften. Das Haus wurde mit seinem Programm zu einer antifaschistischen Schutzinsel.
10. Mai 1940 – Faust, im Krieg
Zürich, Frühling 1940 – am Tag zuvor herrschte Stau in der Stadt, die Zürcher wollten sich in Sicherheit bringen, in die Alpen, ab ins Reduit. Im Herbst war der Zweite Weltkrieg ausgebrochen, nun gab es Gerüchte, die Deutsche Armee marschiere bald in die Schweiz ein. Der Rhein, die Grenze zu Deutschland war nur 25 Kilometer entfernt.
Doch im Schauspielhaus Zürich wurde gespielt. Trotz Kriegsstimmung. Vor dem Haus drängte sich das Publikum. Die Kulissen und Requisiten bewegten die Schauspieler und Schauspielerinnen selbst. Am 10. Mai 1940 hatte der Bund weitere 700’000 Soldaten mobilisiert – auch viele Bühnenarbeiter und Beleuchter des Theaters.
Gespielt wurde Goethes Faust. Die Nazis liebten Faust: In der Geschichte des wissens- und lebensdurstigen Mannes, der sich vom Teufel zu einem Pakt verleiten lässt, seiner Tatkraft und seinem ewigen Streben nach Mehr sahen sie die «Tragödie des nordischen Menschen», das «gotisch-germanische Unendlichkeitsstreben». Doch in Zürich spielten ihn Exilanten aus Deutschland, geflüchtet vor dem Terror der Nazis, viele von ihnen Kommunisten und Juden. Alle von ihnen hatten ihre Rucksäcke gepackt hinter der Bühne liegen. Sie waren bereit zur Flucht.
Der Schauspieler, der Faust spielte, Wolfgang Langhoff, war als Kommunist in einem Konzentrationslager inhaftiert gewesen und von dort in die Schweiz geflohen. Der teuflische Mephisto wurde von Ernst Ginsberg gespielt, dem als Jude in Deutschland die Ermordung drohte. «Wir kannten Hitler und ahnten, was uns bevorstehen würde», erinnerte sich der damalige Dramaturg Kurt Hirschfeld später.
Die Zuschauer waren begeistert. «Jede Anspielung, die auf die gespannte Lage hinwies, begleiteten sie mit frenetischem Beifall», sagte Hirschfeld. «Goethes Dichtung war zu einem aktuellen Stück geworden. Ich glaube, seit diesem Tag ist in dem alten Haus, zwischen den Wänden aus gemalter Pappe und dem erschütterten Publikum, das europäische Zentrum des geistigen Widerstandes geboren worden.»
In den Jahren der Nazidiktatur war das Schweizer Schauspielhaus zur letzten freien deutschsprachigen Bühne von Rang geworden.
1933 bis 1939: Entstehung einer Emigrantenbühne
Hirschfeld hatte 1933 bereits ein Jahr am Schauspielhaus gearbeitet. Der damaliger Direktor, Ferdinand Rieser, hatte ihn, nachdem der Dramaturg von den Nazis aus dem Theaterdienst entlassen wurde – weil er Jude war. Rieser leitete das Haus seit Mitte der 1920er Jahre geschäftlich und inhaltlich. Ab 1933 spielten hauptsächlich Emigrierte auf der Bühne des Schauspielhauses, die in Deutschland nicht mehr spielen durften.
Rieser und sein Ensemble bezogen bereits kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten deutlich Position. So thematisierte das Stück «Die Rassen» den Rassenhass der Nazis. Die Aufführungen wurden regelmässig niedergebrüllt von schweizerischen Nazisympathisanten, den Frontisten. Auf dem Platz vor der Theater erklangen Sprechchöre – «Jude raus, Jude raus». Damit war auch der Direktor gemeint, der aus einer jüdischen Familie stammte.
Rieser verteilte Knüppel an sein Personal und machte weiter. Doch auch gemässigtere Kräfte kritisierten das Schauspielhaus. Die Neue Zürcher Zeitung wünschte sich mehr Taktgefühl im Umgang mit den neuen deutschen Positionen. Man solle nicht unnötig provozieren, indem man die Judenfrage ansprach. Auch die Schweizer Schriftsteller und Dramatiker protestierten gegen den Besitzer Rieser und forderten ein mehr heimatlichem Geist verpflichtetes Volkstheater.
1938 bis 1945: Antifaschistische Klassiker
Doch Rieser legte mit seinem Ensemble und seinem Mut das Fundament für den späteren Ruhm des Schauspielhauses »Eine Inselfestung entstand, die gefüllt war mit geistigen Explosivstoffen. Aus ihr flogen die Geschosse gegen den Feind». So beschrieb Oskar Wälterlin das Haus, das er ab 1938 als Intendant führte. Rieser hatte seine Aktien verkauft und die Leitung abgegeben – aus Geldgründen, aber auch der Feindseligkeiten müde: Er emigrierte mit seiner Familie in die USA. Das Schauspielhaus wurde zur «Neuen Schauspiel AG» – mit einer Aktienbeteiligung der Stadt Zürich: Aus dem privaten Theater wurde eine städtische Bühne.
Ursprünglich wollte man mit der neuen Leitung weg vom kämpferischen Charakter. Krieg lag in der Luft: Man wollte es sich mit dem säbelrasselnden Deutschland nicht verscherzen. Als der Krieg 1939 ausbrach, setzte man zunächst tatsächlich auf Zahmes und Erheiterndes, auf Komödien von Nestroy und Shakespeare – aber auch auf Klassiker aus dem 18. und dem 19. Jahrhundert.
Doch im Schauspielhaus Zürich wurden diese Klassiker anders gespielt, weniger antiquiert, nüchterner. Dem Pathos, der auf den nationalsozialistisch kontrollierten Bühnen in Deutschland seit 1933 immer stärker erklang, setzte man in Zürich einen Stil der Humanität entgegen. Der Schauspieler Wolfgang Langhoff meinte: «So wurde bei uns beispielsweise das Wort Freiheit nicht herausgeschrieen, sondern so ergriffen, einfach und leise gesagt, wie es der Grösse des Begriffs entspricht.»
Dramaturg Hirschfeld beschrieb bei Kriegsende sein Ziel folgendermassen: «Es galt, das Bild des Menschen in seiner ganzen Mannigfaltigkeit zu wahren und damit eine Position gegen die zerstörenden Mächte des Faschismus zu schaffen.»
Zugleich ermöglichten es gerade die älteren Stücke die Gegenwart zu thematisieren, ohne sie direkt anzusprechen. Das war durchaus Strategie. So meinte die Schauspielerin Therese Giehse, die vor dem Schauspielhaus Politkabarett gemacht hatte, in einem späteren Interview: «Wir haben jedes Stück auf seinen politischen Gehalt geprüft, bei uns war nichts unpolitisch.»
Das Schauspielhaus spielte auch neue Stücke, so zum Beispiel von der Expressionistin Else Lasker-Schüler. Auch Bertolt Brechts Stücke fanden hier – anders als in seinem skandinavischen Exil – während des Krieges Möglichkeiten zur Uraufführung. Regelmässig führte man auch englische und amerikanische Stücke auf.
Zerbröckeln der Einheit
Eines der letzten Stücke, die das Schauspielhaus vor Kriegsende aufführte, war der Erstling eines gewissen Max Frischs – «Nun singen sie wieder». Frisch entwickelte sich im Zusammenspiel mit der Bühne des Schauspielhaus, insbesondere Hirschfeld förderte ihn. Auch Friedrich Dürrenmatts Karriere begann am Schauspielhaus, das vom Zweiten Weltkreg geprägt war: Die zwei Schweizer Klassiker wären ohne dieses radikal migrantische Theater nie zu internationalen Erfolgsautoren und Schweizer Klassikern geworden.
Gegen Kriegsende blickten viele Mitglieder des Ensembles wieder über die Grenze, in ihre Heimatländer. Aus der Ferne bereits arbeiteten sie daran, von den Nazis zerstörte Organisationen wiederaufzubauen. Zugleich stiessen im Sommer 1945 Schauspieler zum Ensemble, die aus dem zerbombten Deutschland an die Schweizer Bühnen zurückkehrten: Nun spielten aus Deutschland Geflüchtete mit Schauspielern auf der Bühne, die von den Nazis jahrelang bejubelt worden waren. Mit dem Ende des Nationalsozialismus bröckelte aber auch die Einheit: Aus Antifaschisten wurden wieder liberale Katholiken, parteilose Linke und Kommunisten.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch