Belarus ist nicht die Ukraine
Der Eröffnungsfilm der Solothurner Filmtage im Januar brach mit einer Tradition: Er hatte wenig mit der Schweiz zu tun. Im Schweizer Dokumentarfilm "This Kind of Hope" des Regisseurs Pawel Siczek geht es um Belarus. Das Binnenland ist zwischen den kriegführenden Nationen Russland und Ukraine eingeklemmt.
Der Dokumentarfilm zeigt den politischen Kampf zwischen Alexander Lukaschenko, Europas so genanntem «letzten Diktator» und einem seiner Hauptgegner, dem ehemaligen Diplomaten und Andrej Sannikow. Sannikow ist ehemaliger Diplomat und Präsidentschaftskandidat bei den Wahlen 2010.
Siczeks beunruhigende Bilder zeigen die repressiven Kräfte des Regimes in Aktion. Die Quellen bleiben aus Sorge um ihre Sicherheit ungenannt.
Warum wird Lukaschenko der «letzte Diktator Europas» genannt?
Alexander Lukaschenko kam 1994 an der Macht, als zweites Staatsoberhaupt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991. Seither hat er die Macht nicht mehr abgegeben.
Präsidentschaftswahlen fanden in den Jahren 2001, 2006, 2010, 2015 und 2020 statt. Lukaschenko hat in jedem Wahlgang den Sieg errungen, wobei die Zahl der Betrugsfälle mit der Zeit zunahm.
Nach der letzten Wahl verhängte die Europäische Union Sanktionen gegen das Land und beschuldigte die belarusischen Behörden der «Gewalt, Unterdrückung und des Wahlbetrugs».
Sannikow nahm mit seiner Frau, der Journalistin Irina Chalip, an der Eröffnung der Filmtage in Solothurn teil. Er appellierte in seinem Aufruf, die belarusische Opposition zu unterstützen, auch an die «egoistischsten Instinkte» der Öffentlichkeit: «Wir kämpfen, zusammen mit der Ukraine, für Sie, für die Sicherheit aller Demokratien in Westeuropa», sagte er.
Sannikow war Mitte der 1990er-Jahre stellvertretender Aussenminister des Landes, bevor er Lukaschenko bei den Wahlen 2010 herausforderte.
Nach einem «Erdrutschsieg», wie Lukaschenko es nannte, wurde Sannikow verprügelt, verhaftet und zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. 2012 wurde er begnadigt. Er lebt heute im Exil in der polnischen Hauptstadt Warschau, von wo aus er mit SWI swissinfo.ch sprach.
swissinfo.ch: Wenn wir über Belarus sprechen, ist der Schatten von Putins Russland nicht weit. Selbst wenn die Opposition in Belarus schliesslich die Kontrolle übernehmen und das Land zur Demokratie zurückführen könnte: Würde Russland Belarus jemals seinen eigenen Weg gehen lassen?
Andrej Sannikow: Das ist eine falsche Perspektive. Ich hätte nie gedacht, dass die baltischen Staaten der NATO beitreten würden, bis sie es taten. Und sie taten es, als Putin an der Macht war.
Unsere Tragödie ist, dass wir sehr oft durch die Brille Moskaus betrachtet werden. Der Westen unterstützt die belarusische Opposition nicht zu sehr, weil das Putin verärgern und den Kreml erzürnen könnte. Das ist meiner Meinung nach der falsche Ansatz.
Was wäre denn der richtige Ansatz?
Ich gehe davon aus, dass wir es verdienen, unabhängig, frei und europäisch zu sein.
Ich bitte die Menschen in Belarus um einen Vergleich: Wollen sie die gleichen Strafgesetze wie in Russland, die keine Gesetze sind, sondern Regeln?
Schauen Sie sich den Westen an: Es mag Ihnen nicht gefallen, aber dort herrscht Rechtstaatlichkeit, die Rechte von Einzelnen werden geschützt – in gewisser Weise.
Sie haben auch korrupte Politikerinnen und Politiker, aber zumindest sind nicht alle korrupt.
Es gibt freie und faire Wahlen, und das ist die Grundlage für die Existenz der demokratischen Gesellschaft. Als ich Wahlkampf machte, war es sehr einfach, das zu erklären.
Fürchten Sie, dass Belarus eine weitere Ukraine werden könnte?
Nein. Wir werden in Russland nicht als ein fremdes Land wahrgenommen. Für die Propaganda des Kremls wäre es sehr schwer, die Belarusinnen und Belarusen als Feinde darzustellen, weil sie in Russland wirklich geschätzt werden.
Selbst als die Proteste gegen die gefälschten Wahlen im Jahr 2020 begannen, selbst als der Kreml Lukaschenko offen unterstützte, haben die Russinnen und Russen ihn nicht unterstützt.
Die russische Propaganda hat es geschafft, die Ukrainerinnen und Ukrainer als ihre Feinde darzustellen und sie als «Nazis» und extreme Nationalistinnen und Nationalisten zu bezeichnen, die alles Russische vernichten wollen. Der Fall von Belarus ist anders.
Wie würden Sie die Kräfte beschreiben, welche die belarusische Opposition bilden?
Die wahren Anführerinnen und Anführer sind heute im Gefängnis, ebenso wie viele der Menschen, mit denen ich seit über 20 Jahren zusammenarbeite.
Swetlana Tichanowskaja [mutmassliche Gewinnerin der Wahl 2020, dei jetzt im litauischen Exil lebt, die Red.] macht einen Teil der Arbeit, aber nicht sehr effektiv. Es braucht mehr als nur internationale Reisen.
Was ist mit ehemaligen Kommunistinnen und Kommunisten?
Es gab ehemalige Kommunistinnen und Kommunisten in der Opposition. Aber die haben sich kompromittiert, als sie 2014 den russischen Krieg in der Ukraine unterstützten.
Obwohl wir gute persönliche Beziehungen haben, möchte ich mit ihnen politisch nichts mehr zu tun haben.
Wir sind uns zwar alle einig in der Frage der Unabhängigkeit und der Demokratie. Aber nicht alle in der Opposition teilen die gleichen Ansichten über eine europäische Zukunft.
Und heute gibt es noch einen weiteren wichtigen Faktor: die Freiwilligen, die in der Ukraine gegen Russland kämpfen.
Wer sind sie?
Mehrere hundert Freiwillige im Regiment, das nach Kastus Kalinouski benannt ist, einem belarusischen Nationalhelden. Sie sagen, sie kämpfen in der Ukraine für die belarusische Freiheit.
Bisher ist ihre politische Kraft noch nicht so stark, aber es ist dennoch ein ermutigendes Zeichen, vor allem für die politischen Gefangenen: Es gibt jetzt ein bewaffnetes Element in der Opposition. Ihr Engagement ist für die Belarusinnen und Belarusen sehr viel wertvoller als jede Erklärung oder Stellungnahme.
Haben die westlichen Sanktionen gegen Belarus dem Land und dem Regime bisher geschadet?
Leider hat es der Westen versäumt, nennenswerte Sanktionen gegen Lukaschenko und sein Gefolge einzuführen oder durchzusetzen. Das Geschäft mit Diktatoren ist sehr lukrativ.
Die Schweiz ist der EU bei ihren Sanktionen gegen Russland und BelarusExterner Link gefolgt. Könnte die Schweiz mehr tun?
Ja, mehr Sanktionen verhängen. Die Schweiz hat es geschafft, ihre Bürgerinnen und Bürger vor dem Gefängnis zu bewahren. Natallia Hersche, welche die doppelte Staatsbürgerschaft [jene der Schweiz und von Belarus›] besitzt, ist ein Beispiel dafür.
Aber die Schweiz anerkennt Lukaschenko immer noch als legitimes Staatsoberhaupt. Sie hat den Botschafter geschickt, um sein Beglaubigungsschreiben vorzulegen, nachdem Lukaschenko sich selbst gewählt hatte. Ich bin sehr froh, dass Natallia freigelassen wurde. Aber Gefangene freizukaufen ist nicht der richtige Weg.
Sie meinen, die Schweiz hat einen zu hohen politischen Preis bezahlt, um ihre Kanäle nur für eine Gefangene zu nutzen?
Ein zu hoher Preis für die anderen, die noch im Gefängnis sind. Die Schweiz könnte sicherlich mehr tun. Sie beherbergt zum Beispiel das Internationale Rote Kreuz, dessen belarusische AbteilungExterner Link Lukaschenko gegenüber völlig loyal ist.
Diese besteht nicht darauf, die Gefangenen zu besuchen. Ich fordere sie immer wieder dazu auf. Ich habe eine Liste derjenigen, die medizinische Hilfe benötigen. Ich sage es ihnen immer wieder: Auch wenn man Euch nicht reinlässt, macht weiter Druck, dann ändert sich vielleicht etwas. Vergeblich.
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz in Genf will die lokalen Organisationen des Roten Kreuzes, die nicht humanitären Zwecken dienen, sondern Diktaturen, nicht blossstellen.
SWI swissinfo.ch hat das Internationale Komitee vom Roten Kreuz in Genf um eine Stellungnahme zu den Aussagen von Andrej Sannikow gebeten: «Das IKRK arbeitet eng mit den anderen Teilen der Bewegung zusammen, um eine konzertierte, effiziente und schnelle humanitäre Reaktion auf bewaffnete Konflikte oder andere Gewaltsituationen zu gewährleisten. Das IKRK beaufsichtigt jedoch nicht die Tätigkeit einer bestimmten nationalen Gesellschaft wie der Belarusischen Rotkreuzgesellschaft, und die nationalen Gesellschaften gehören auch nicht dem IKRK an», heisst es in einer Antwort der Organisation.
Die baltischen Staaten, Polen, Belarus und die Ukraine haben eine lange Geschichte starker nationalistischer Bewegungen. Welche Rolle spielen diese Bewegungen heute?
Das ist in jedem Land anders. Ich denke, man kann der Ukraine nicht vorwerfen, dass sie sich aufgrund des Kriegs immer stärker national orientiert.
Die Bevölkerung hat aufgehört, russische Filme zu schauen und russische Bücher zu lesen, weil der Informationskrieg, der gegen sie geführt wird, auf Russisch geführt wird.
Lukaschenko unterdrückt die belarusische Sprache, weil er der einzige Diktator ist, der alles Nationale ablehnt. Er bezeichnet sich selbst als sowjetischen Internationalisten und ist diesem Prinzip treu geblieben.
Wenn man heute die belarusische Sprache verwendet, kann man damit seine Sympathie für die Widerstandbewegung bekunden. Wenn man sie öffentlich verwendet, kann man verhaftet werden.
Die Russifizierung von Belarus war viel stärker als die Russifizierung der Ukraine. Aber heute wächst das Netz der belarusischen Sprachlerngruppen. Es gibt definitiv eine Verjüngung der belarusischen Literatur, Poesie und Musik.
Das ist ein natürlicher Prozess unter einer Unterdrückung. Wenn man unterdrückt wird, findet man Mittel, um den Unterdrücker zu bekämpfen. Und zu diesen Mitteln gehören in der Regel die lokale Sprache, Kultur oder Geschichte.
In Russland hat das Putin-Regime seinem eigenen Volk die Geschichte der Sowjetunion weggenommen und Fakten der Weltgeschichte verfälscht. Ich würde sogar Mitleid mit ihnen haben, wenn sie nicht so aggressiv wären.
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